Raststätte Gräfenhausen: Unite, organize, strike – show solidarity!

Raststätte Gräfenhausen: Unite, organize, strike – show solidarity!

Wilde Streiks stellen für besonders ausgebeutete Gruppen ein entscheidendes Kampfmittel dar, um Aufmerksamkeit, Solidarität und Erfolge zu generieren. Vor allem verweisen verbandslose Arbeitskämpfe auf das Potential von Arbeiter*innenmacht. Ein Weg in Opposition zu Repräsentation und Kompromiss, das gilt es, insbesondere für Bewegungslinke, zu erkennen.

Streikende LKW-Fahrer*innen bei einen blauen LKW mit der Aufschrift MAZUR DEBTOR, NO MONEY
Bild: Streikende LKW-Fahrer*innen bei einen blauen LKW mit der Aufschrift „MAZUR DEBTOR, NO MONEY“

Die Raststätte Gräfenhausen an der A5 in Südhessen (bei Darmstadt-Dieberg) ist seit dem 18. Juli erneut Ort für einen der mutigsten Arbeitskämpfe des Jahres 2023. Was sich dort aktuell ereignet stellt jeden Streik der großen Gewerkschaften in den Schatten. Warum?

    1. Es handelt sich dabei um einen wilden Streik, auch als verbandsloser Streik bezeichnet. Streikende legen die Arbeit nieder ohne vorherigen Aufruf durch eine anerkannte Gewerkschaft und unabhängig von offiziellen Tarifverhandlungen. Wilde Streiks sind selten und von besonderer Bedeutung, da sie gemäß deutscher Rechtsprechung verboten sind.
    2. Bestreikt wird eine Branche, die bekannt ist für schlechte Arbeitsbedingungen und einen hohen Grad an Ausbeutung.
    3. Betroffen sind über 120 LKW-Fahrer des polnischen Spediteurs Mazur. Sie stammen aus Ländern wie Georgien, Usbekistan, Tadschikistan, der Ukraine und der Türkei.
    4. Es ist bereits das zweite Mal, dass es zum Stillstand kommt, nachdem bereits im April derselbe Spediteur über einen Zeitraum von 6 Wochen bestreikt wurde. Weit über 100 LKW-Fahrer in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz solidarisierten sich mit dem ersten Streik und legten ihre Arbeit nieder.
    5. Infolge des ersten Streiks konnte ein Teilerfolg erkämpft werden, alle ausstehenden Gehälter wurden durch den säumigen Spediteur bezahlt. Von Bedeutung war dabei ein nicht unwichtiges Detail: Die Auslieferung eines speziellen Bauteils des Konzerns General Electric wurde verzögert, welches so nicht für den Weiterbau einer größeren Anlage zur Verfügung stand.
    6. Erst vor zwei Tagen kam es zu einer weiteren Zahlung von ausstehenden Löhnen.

Während die Presse und die Gewerkschaft ver.di sowie das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität (DGB) den Streik thematisieren, liest man von radikalen Linken wenig bis gar nichts zu diesem speziellen Streik oder zu der allgemeinen Bedeutung von verbandslosen Streiks. Ihre Rolle auf dem Feld des Arbeitskampfes sollte nicht unterschätzt werden. Bereits im Jahr 2022 wurde das Netz überflutet von den wilden Streiks der Gorilla-Riders und der Anwendung von Union-Busting-Taktiken bei Lieferando. Durch diese Kämpfe entstand u. a. ein neues Arbeitskampfbündnis, das riders collective. Darüber hinaus wird das deutsche Streikrecht ins Visier genommen. Dieses hat seinen Ursprung in nationalsozialistischer Rechtsprechung, die sich an dem Gutachten von Hans Carl Nipperdey (Jurist, Präsident des BAG) orientierte. Er wirkte während der Nazizeit maßgeblich an der restriktiven Arbeitsgesetzgebung mit. Deutsche Rechtsprechung zu wilden Streiks und zum Generalstreik/politischen Streik, verstößt bis heute gegen die europäische Sozialcharta. Dem Entsprechend sind deutsche Arbeitnehmer*innen im europäischen Vergleich schlechter gestellt und verbandslose Arbeitskämpfe werden so kriminalisiert.

Die Verdi-Streiks bekamen noch ausreichend Aufmerksamkeit, jedoch wich die anfänglich kämpferische Stimmung zwischenzeitlich der Frustration und Ablehnung von DGB-Gewerkschaften. Aus einer radikal linken Perspektive ist das nicht unverständlich, denn klassenkämpferisch orientierte Organisationen stellen sich die Frage danach, ob und wie wir überhaupt in den anerkannten Gewerkschaften wirken können. Sozialpartnerschaft, Bürokratisierung und Funktionärskader scheinen der Veränderung von innen heraus entgegen zu stehen. Eine weitere Frage ist, wie wir Gegenmacht aufbauen können.

Was braucht es jetzt? Wir von der Sektion Arbeit von Perspektive Selbstverwaltung rufen unsere anarchistischen Genoss*innen auf, Arbeitskämpfe thematisch stärker in den Fokus zu nehmen und sich mit den Streikenden in Gräfenhausen zu solidarisieren. Wir suchen insbesondere Anschluss an Bewegungen, die aus der eigenständigen, unabhängigen Organisierung von Arbeiter*innen heraus entstehen. Ihnen kommt eine besondere Bedeutung für eine Mobilisierung von Arbeitermacht zu. Sowohl der Streik in Gräfenhausen, als auch die Organisierung der Rider bieten dafür eindrückliche Beispiele. Sie brechen mit dem bürgerlichen Narrativ, dass Arbeitskämpfe innerhalb Deutschlands nur im Rahmen von Tarifverhandlungen möglich sind und führen uns auf den Weg des politischen Streiks. Wir erkennen in diesem eine anarchistische Praxis, die die aktuelle Politik der Ausbeutung in Frage stellt und helfen kann, den Gedanken der Gegenmacht breiter in verschiedene Gesellschaftsbereiche zu tragen.

Darüber hinaus möchten wir auf die Kampagne für ein umfassendes Streikrecht verweisen. Ihre Akteure streben eine tiefgreifende Veränderung des deutschen Streikrechts an. Zwar handelt es sich dabei um reformistische Bestrebungen, doch als anarchistische Organisation lehnen wir Gesetzesänderungen, die mehr Freiräume für emanzipatorische Bewegungen schaffen, nicht ab. Wir erkennen dagegen an, dass sie bereits im Hier und Jetzt Verbesserungen ermöglichen, die der Gesellschaft zugute kommen. Auch hier ist der Generalstreik ein Ziel, den wir, wie bereits erwähnt, als wichtige Praxis für revolutionäre Bestrebungen unterstützen.

In diesem Sinne volle Solidarität mit den streikenden LKW-Fahrer in Gräfenhausen. Ihr seid nicht alleine, wir sehen euren Kampf!

Quellen