Klasse, Klassismus und Ableismus in der politischen Organisierung und in Alltagskämpfen

Der folgende Text über Klasse, Klassismus und Ableismus in der politischen Organisierung und in Alltagskämpfen wurde als PS-Redebeitrag für den Care-Block geschrieben. Letzten Endes wurde er nicht gehalten was unterschiedliche Gründe hat. Jedoch lässt die Tatsache, dass wir als PS es nicht geschafft haben diesen Themen öffentlich eine Bühne zu bieten, unserer Meinung nach darauf schließen, dass auch innerhalb unserer eigenen Strukturen noch viel passieren muss! Wir als Gesundheitssektion wollen uns dafür gerne den Hut aufsetzen und sehen die Veröffentlichung des Beitrags hier als Ausgangspunkt um über die Themen Ableismus und Klasse / Klassismus weiter nachzudenken und zu sprechen.

(Rede-)beitrag der Sektion Gesundheit für den Care-Block bei der Umverteilen-Demo am 12.11.2022

Klasse, Klassismus und Ableismus in der politischen Organisierung und in Alltagskämpfen

Wir, das sind einige Menschen von der anarchistischen Organisation Perspektive Selbstverwaltung, haben in Bezug auf die Themen ‚Gesundheit‘ und ‚Care‘ sehr unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und Definitionen. Im folgenden werden wir aus einigen dieser Perspektiven sprechen. Wir möchten mit diesem Redebeitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Wenn wir jetzt über Ableismus und Klassismus sowie damit verbundene Ausschlüsse, aber auch Unterstützung und Sichtbarkeit reden, fehlen viele, sehr unterschiedliche Perspektiven. So sind wir, die hier sprechen, nicht von Rassismus oder Transfeindlichkeit betroffen. Das alles beeinflusst unsere Perspektiven.

Ich bin Toni, 27 Jahre alt und ich habe eine nicht sichtbare Behinderung, die mich Tag und Nacht beschäftigt. Ich habe Epilepsie. Ich bin schon immer auf der Suche nach meinem Platz innerhalb unserer Gesellschaft und innerhalb der linken Szene. Seit meiner Diagnose und den vielen Anfällen ist diese Suche sehr viel schwerer und ehrlich gesagt beängstigend geworden. Mein Leben hat sich mit meiner Epilepsie sehr stark verändert und ich habe meinen Platz noch nicht gefunden.

Innerhalb der linken Szene habe ich schon sehr viel mitgestalten können, was mir sehr viel Kraft und das Gefühl gibt mit anderen Menschen gemeinsam für mehr Solidarität und Gerechtigkeit zu kämpfen. Die Art und Weise wie ich in den letzten Jahren organisiert war und wie ich die Szene kennengelernt habe, hat mir oft das Gefühl gegeben an meine Grenzen gehen zu müssen um den Ansprüchen gerecht zu werden. An sich ist das auch kein Problem, solange ich diese Grenzen gut kenne und nicht überschreite. Allerdings haben sich meine Grenzen wegen meiner Behinderung unglaublich stark verändert. Das Problem dabei ist, dass es wenig Orientierungspunkte gibt, welche verständlich und sichtbar machen, wann etwas zu viel für mich ist und wo meine Grenzen nun eigentlich sind. Das muss ich komplett neu herausfinden, anerkennen und kommunizieren lernen. Dabei spielt aus meiner Perspektive die Sichtbarkeit eine sehr große Rolle. Es fällt mir schwer überzeugend rüber zu bringen, dass ich z.B. etwas, was ich mir vorgenommen habe, auf Grund meiner Behinderung nicht schaffen werde oder nicht geschafft habe. Dadurch, dass meine Behinderung nicht sichtbar ist, habe ich manchmal das Gefühl kein ehrliches Verständnis dafür zu bekommen wenn ich meine Grenzen aufzeige. Dafür muss ich unglaublich viel Kraft und Selbstbewusstsein mitbringen. Ich bekomme in diesem Prozess unglaublich viel Unterstützung aus meinem Umfeld und bin gerne Teil von PS.

Ich will noch kurz was zu den strukturellen Dingen sagen, die mir manchmal den Weg versperren. Das sind einige, aber ich werde jetzt nicht alle aufzählen: Es gibt z.B. selten Triggerwarnungen vor Filmen, auf Partys oder bei Lichtshows. Es gibt selten überhaupt das Bewusstsein dafür, dass es Ausschlüsse erzeugt mit bestimmten Lichteffekten zu arbeiten. Außerdem wurde ich vor ein paar Wochen gekündigt. Sehr kurzfristig, ohne transparent gemachten Grund und während ich Krankgeschrieben war! Ich vermute stark, dass ich gekündigt wurde, weil ich dieses Jahr insgesamt 2 Monate stationär im Krankenhaus sein musste und wahrscheinlich noch häufiger ins Krankenhaus muss. Aber diese Krankenhausaufenthalte sind kein Urlaub und wir sollten keine Angst um unsere Jobs und unsere existenzielle Sicherheit haben müssen, wenn wir die medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, die notwendig ist! Und ich weiß, dass es viele Menschen gibt, denen es so geht wie mir. Jetzt kämpfe ich mit einem Anwalt für die Rechte, die ich als Arbeitnehmerin habe. Es gibt vieles mehr, aber das wichtigste ist über das zu reden was uns beschäftigt und uns gegenseitig zu bilden. An alle die betroffen sind: Lasst euch ermutigen über eure Behinderungen zu reden auch wenn es nicht immer leicht ist! Und an alle anderen: Lasst euch ermutigen uns zuzuhören und zu lernen! Wir sind viele und wir brauchen kein Mitleid, sondern eure Solidarität!

Ich heiße Lisa und bin 24 Jahre alt. Ich bin im Süden Neuköllns aufgewachsen. Bis zur Oberschule hatte ich kaum Kontakt zu Menschen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund. In meiner Klasse gab es keine Kinder, die mit ihren Eltern in den Ferien Langstreckenflüge machten oder Skireisen, die in die Oper gingen oder zu Hause intellektuelle Diskussionen führten. Auf dem Gymnasium war das anders. Zudem waren die Menschen um mich herum plötzlich politisch engagiert – oder zumindest hatten sie zu (fast) Allem eine Meinung. Diese verteidigten sie im Unterricht oder bei Podiumsdiskussionen – zum Teil lautstark. Die meisten von ihnen konnten gut argumentieren, sie waren oft normschön und hatten ihren eigenen alternativen Stil, oft wohnten sie in irgendwelchen Kiezen in Kreuzberg oder Schöneberg. Mich an ihren Diskussionen zu beteiligen oder gar außerhalb der Schule irgendeiner Gruppe beizutreten kam mir nicht in den Sinn – was hab ich denn schon beizutragen ? Die scheinen ja schon alles zu wissen und eine Lösung haben sie auch bereits gefunden : Den Kapitalismus abschaffen ! Soweit so gut. Doch meine Freund:innen aus weniger privilegierten Familien konnten mit den Narrativen vom ‚Klassenkampf‘ wenig anfangen, sie sahen darin keinen Bezug zu sich selbst und ihrer eigenen Lebensrealität. So bezeichneten sie unsere linken Mitschüler:innen zum Teil als heuchlerische Gutmenschen.

Heute frage ich mich, ob ich jetzt auch einer von diesen bin. Denn ich weiß, dass für mich eine ganze Reihe an Privilegien ausschlaggebend waren für meine Politisierung und es immer noch sind für meine politische Arbeit aktuell: Ich bin weiß und spreche fließend deutsch, ich darf studieren und habe genügend Freizeit um kulturelle und politische Angebote wahrzunehmen.

Manchmal habe ich das Gefühl, privat den Bezug zu Menschen außerhalb der linken Szene verloren zu haben. Auch als Teil von PS fällt es mir schwer, die Zugänglichkeit und gesellschaftliche Anschlussfähigkeit der Gruppe realistisch einzuschätzen. Wie wirken wir auf Menschen? Finden sich Anliegen und Bedürfnisse in unseren Forderungen wieder? Haben wir bereits eine eigene, unverständliche Sprache entwickelt?

Ich heiße Anna und bin 34 Jahre alt. Ich gehe gerne spazieren, Puzzle viel und höre Star Wars-Hörspiele. Ich brauche viel Zeit für mich. Ich habe die letzten 2 Jahre dafür gekämpft, dass mir die Rentenversicherung eine Umschulung finanziert. Das Jobcenter hat mir die „Frührente“ empfohlen. Ich bin schon länger bei Perspektive Selbstverwaltung (PS) organisiert. Mir sind aber auch noch viele andere Dinge wichtig. Ich bin Autistin, habe unter anderem eine chronische, mittelgradige Depression und kümmere mich um regelmäßige Physiotherapie, Psychotherapie und Schilddrüsen-Medikamente. Ich schätze meine Fähigkeiten und Möglichkeiten, aber auch meine Grenzen meistens realistisch ein und bin OK damit. Und trotzdem: Ich vergleiche mich immer wieder mit anderen Leuten von PS und werte mich selbst ab. Ich pathologisiere mich – also ich sehe mich als „krank“ und andere als „normal“. Ich frage mich, ob ich innerhalb von PS genug leiste. Ob ich zu viele Umstände mache, wenn ich mir eine Online-Teilnahme wünsche. Ob ich mich nicht einfach nur mehr anstrengen müsste, um an Aktionen, die mich überfordern, teilzunehmen. Ob ich Menschen durch meinen Wunsch nach Sichtbarkeit, Mitgestaltung und Unterstützung von wichtigeren Dingen ablenke.

Sind das jetzt unsere individuellen „Problemchen“? Nein! Das hat unter anderem mit Ableismus und Klassismus zu tun. Ableismus erfahren behinderte, psychiatrieerfahrene und chronisch kranke Menschen. Es ist eine strukturelle Diskriminierung. Das heißt, es geht nicht nur um Vorurteile und Gewalt durch Einzelne, sondern um gesellschaftliche Machtverhältnisse. Und diese betreffen alle Menschen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art – ob sie wollen oder nicht. Das bedeutet zum Beispiel, dass es eine herrschende Meinung darüber gibt:

    • welche Fähigkeiten als „wertvoll“ und „bewundernswert“,
    • welche Körper als „schön“ und „begehrenswert“,
    • und welche Menschen als „gesund“ und „ganz“ und welche als „krank“ und „kaputt“ gelten.

Klassismus ist ein empowernder Begriff, der der feministischen, schwarzen und lesbischen Bewegungen entstammt. Gemeint ist damit ein systematisches abgeschnitten sein von Geld, Bildung und Teilhabe. Dabei finden Aberkennungsprozesse auf verschiedenen Ebenen statt; sie betreffen sowohl unsere ökonomische als auch unsere kulturelle Position in der Gesellschaft. Insgesamt werden Menschen durch Klassismus entwürdigt: Die Bürgerliche Klasse gilt als Norm und wird durch eine wiederholte Abgrenzung „nach unten“ aufrechterhalten.

Ausschlüsse durch Ableismus und Klassismus sind vielfältig, auch in politischen Organisierungen, wie Perspektive Selbstverwaltung: Welche Aktionsformen werden, wie schwerpunktmäßig durchgeführt? Wie ist das mit der Aufgabenverteilung und der Sichtbarkeit von organisatorischen Hintergrundaufgaben und Care-Arbeit? Ist die Website so gebaut, dass ein Screen-Reader sie verständlich wiedergeben kann? Was ist mit Einfacher Sprache? Wie zugänglich sind Plenumsorte, -zeiten und die Wege dorthin? Erhalte ich immer wieder die Möglichkeit mich auszuprobieren, mich zu irren und es nochmal zu probieren? Oder wird mit guter Absicht ein Schonraum geschaffen, der mich eher bevormundet, als mir Möglichkeiten zu bieten? Wie sieht es mit sozialer und materieller Unterstützung aus? Gerade für kleine, lokal aktive Gruppen wie PS ist es aufgrund begrenzter finanzieller und zeitlicher Ressourcen oft nicht einfach, diese verschiedenen Formen des Ausschlusses komplett zu verhindern. Dazu sollten wir uns auch selbst einmal hinterfragen: Warum sind wir so überzeugt davon, dass ein Mensch nur einen Wert hat, – auch innerhalb der politischen Bewegung – wenn er bestimmte Leistungen erbringt und problemlos funktioniert? Wir sollten bereits jetzt alles in unserer Macht stehende tun, um uns gegenseitig zu unterstützen und eben nicht jene kapitalistischen Wertevorstellungen in unseren eigenen Strukturen reproduzieren!

Und was hat das Ganze mit der aktuellen Krise zu tun? Werden Ressourcen jeder Art knapp, werden schnell die Stimmen laut, die das Leben behinderter, psychiatrieerfahrener und chronisch kranker Menschen hinsichtlich ihrer Überlebens-Chancen z.B. im Fall einer Covid19-Erkrankung bewerten. In der Diskussion um selbstbestimmte Assistenz und die Abschaffung des „Werkstatt-Systems“ geht es weniger um die Forderungen betroffener Personen, sondern meist nur um den gesellschaftlichen Nutzen und Mehrwert von Inklusion. Es ist kein Zufall, dass faschistische Ideen, wie die sogenannte Erbgesundheitslehre (Eugenik) während der Weltwirtschaftskrise gesamtgesellschaftlich sehr anerkannt waren. Dies war die Grundlage für die Gewalt und den organisierten Mord an behinderten, psychiatrieerfahrenen und chronisch kranken Menschen während des Nationalsozialismus. Auch damals wurden „die gesellschaftlichen Kosten“ und die vermeintlich geringe Lebensqualität als Begründung von weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Diese Überzeugungen wurden nie abgelegt und haben bis heute Kontinuität. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass von Rassismus und Transfeindlichkeit betroffene Menschen, obdachlose Menschen und Menschen in psychischen Krisen täglich Gewalt erfahren und ermordet werden – ohne dass dies in der Gesellschaft große Betroffenheit hervorruft. Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die diese sogenannte „Normalität“ nicht akzeptieren. Sie kämpfen tagtäglich auf unterschiedlichste Art um ihr Recht auf Leben, Sichtbarkeit und Selbstbestimmung.

Lasst uns daher gemeinsam kämpfen und einander solidarisch unterstützen. Lasst uns dafür sorgen, dass depressive Episoden, Krankschreibungen oder Krankenhausaufenthalte nicht zu Isolation führen. Lasst uns verhindern, dass gesunde Ernährung und eine geheizte Wohnung (noch mehr) zu Luxusgütern werden!

Und jetzt noch ein Shout-Out

Wenn ihr jetzt das erste mal von Ableismus gehört habt, dann informiert euch gerne bei folgenden Gruppen und Einzelpersonen. Vor und während des Schreibens dieses Redebeitrags haben wir viel von ihrem Wissen und ihren Erfahrungen gelernt.