[Look here for the English translation of the interview]
Als internationalistische Sektion der anarchistischen Organisation Perspektive Selbstverwaltung haben wir in diesem Sommer mit verschiedenen revolutionären Gruppen im Sudan über ihre Arbeit und die politischen Prozesse vor Ort gesprochen. Das folgende Interview mit der Gruppe „Sudanese Anarchist Gathering“ ist per Mail entstanden. Aufgrund der Sprachbariere(n) und der unterschiedlichen politischen Sozialisation und Begrifflichkeiten haben sich in unserer Kommunikation miteinander einige Schwierigkeiten ergeben. Dadurch hat sich die Publikation des Interviews stark verzögert (August 2022). Fragen sowie Antworten wurden zur besseren Lesbarkeit übersetzt und redaktionell bearbeitet. Wir freuen uns jetzt aber das Interview teilen zu können und verstehen die vorher genannten Hürden als logischen Bestandteil internationalistischer Arbeit.
Erzählt uns vom Sudanese Anarchist Gathering (soweit dies möglich ist, ohne Repressionen für euch und andere zu riskieren). Was sind eure Ziele und welche Strategien habt ihr, um sie zu erreichen? Wie seid ihr organisiert? Habt ihr lokale Gruppen in verschiedenen Städten oder arbeitet ihr mit anderen anarchistischen Gruppen zusammen?
Wir sind eine Gruppe sudanesischer Jugendlicher, die an den libertären, sozialistischen und anarchistischen Gedanken glaubt. Wir haben unsere revolutionäre Gruppe im Zuge der Dezemberrevolution (2018) gegründet, wo wir uns auf Demonstrationen und in Universitäten getroffen haben. Wir haben uns in einer Gruppe zusammengeschlossen, um anarchistische Ideen zu verbreiten und anarchistische Erfolge vor Ort im ganzen Sudan zu erzielen. Dies geschah trotz der Gefahr, die von den Regierungsbehörden ausgeht, da sie gegen jeden der anarchistischen Idee verbreitet oder eine solche Vereinigung gründet vorgehen. Trotz dieses Risikos waren wir entschlossen, eine Gruppe zu gründen, die gegen die Regierung und ihre korrupten Institutionen kämpft, selbst wenn wir das Risiko eingehen, lebenslang ins Gefängnis zu kommen oder vom faschistischen Staat getötet zu werden. Einer unserer ersten Schritte war es Kontakt zu einzelnen Anarchisten in allen Staaten des Sudan aufzunehmen und Kommunikationskanäle mit einer Gruppe von Anarchisten im Nordsudan aufzubauen. Die Genoss*innen dort leisten großartige Arbeit bei der Verbreitung der Idee des Anarchismus und organisierten die erste anarchistische Studentenbewegung im Sudan an der Universität von Dongola, die wir, die Anarchistengruppe von Khartum, unterstützen. Jetzt ist die Bildung eines allgemeinen und umfassenden Organisationsorgans im Gange. Dessen Hauptziel soll es sein, alle Gruppen und Einzelpersonen, die an anarchistische Ideen glauben und Teil der Bewegung sein wollen, miteinander zu verbinden.
Was sind eure Ziele und welche Strategien verfolgt ihr, um diese Ziele zu erreichen?
Unser erstes und wichtigstes Ziel ist es, das faschistische Militärregime zu stürzen, welches eine große Gefahr für jeden darstellt, der seine Meinung frei äußert, jeden verhaftet, der einer anarchistischen Gruppe zugehörig zu sein scheint, und das daher unsere Möglichkeiten zur Verbreitung unserer Ideen einschränkt. Nur der Sturz dieses faschistischen Regimes wird uns die Möglichkeit geben, unsere anderen Ziele zu verfolgen, denn es stuft uns als Saboteure, Terroristen und als Gefahr für das ganze Land ein. Dementsprechend ist unser derzeitiges Hauptziel der Sturz des faschistischen Militärregimes. In diesem Kampf setzen wir viele Strategien ein, die sich auf bestehende Instrumente de
s friedlichen Protests stützen, aber wir haben auch zusätzliche friedliche Aktionsformen erfunden, die sich als wirksam erwiesen haben.
Wie organisiert ihr euch und eure Arbeit? Habt ihr lokale Gruppen in verschiedenen Städten und auf dem Land?
Wir organisieren uns [horizontal] und am Hand von nicht-hierarchische direktdemokratische Entscheidungamechanismen. Derzeit gibt es im Sudan nur zwei organisierte anarchistische Gruppen: eine Gruppe im Norden des Landes und unsere Gruppe, die sich in der Hauptstadt Khartoum befindet.
Es scheint, dass ihr euch auf die Universitäten konzentriert. Wie sieht eure Zukunftsvision für die Arbeit mit Gruppen der Arbeiterklasse, die keinen Zugang zu Universitäten hatten, aus?
Ja, die Universitäten sind unsere Zentren. Selbst in der Hauptstadt Khartum ist es ungeheuer schwierig, anarchistische Studentengruppen an den Universitäten zu organisieren. Das liegt daran, dass der Staat seine ganze Macht einsetzt, um das Kapital zu schützen und die Arbeit von politischen Studentengruppen zu verhindern. Wann immer solche Gruppen entdeckt werden, werden alle ihre Aktivitäten gestoppt und die Universitätsverwaltung wird aufgefordert, jeden Studenten, der mit der Organisation in Verbindung steht, von der Universität zu verbannen. Aus diesem Grund arbeiten wir immer noch im Untergrund als versteckte Organisation innerhalb der Universitäten. Bis wir das Regime stürzen, wird dies auch notwendig sein, da wir erst dann eine öffentlich bekannte Gruppe werden können, wenn das Volk selbst die Macht hat.
Wie ist das Verhältnis zwischen den Großstädten und dem Land im Sudan?
Es gibt eine große Kluft zwischen Stadt und Land, insbesondere in sozioökonomischer Hinsicht. Es ist ganz klar, dass die Akkumulation von Kapital und Arbeit in großen Städten wie Khartum auf Kosten des Landes und der ländlichen Gebiete geht. Die Kommunikation und Interaktion mit den Menschen in ländlichen Regionen ist eine Herausforderung für uns, aber wir nutzen die Netzwerke und Verbindungen unserer Genoss*innen, um einen großen Teil der ländlichen und nicht-städtischen Gebiete zu erreichen.
Wir wissen, dass Frauen eine wichtige Rolle in der revolutionären Bewegung im Sudan spielen. Wie sieht das in eurer Organisation aus?
Ja, Frauen sind ein integraler und aktiver Bestandteil unserer Gruppe. Wir achten zudem auf die Gleichberechtigung bei der Verteilung von Rollen und Rechten innerhalb der Organisation, so steht es auch in unserer Gruppensatzung. Wir unterstützen die anarcho-feministische Bewegung.
Wir haben die Übersetzung eines Programms für eine anarchistische Studentenvereinigung veröffentlicht. Was ist eure Meinung zu diesem Programm?
Wir begrüßen diesen Schritt der Anarchisten im Nordsudan und arbeiten hart daran, ähnliches in allen Universitäten des Sudans zu erreichen.
Wie reagieren Menschen, die eure anarchistischen Ideen nicht teilen, in Gesprächen mit euch?
Im Gespräch mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten über solche Themen sind sie oft sehr erstaunt über unsere Stärke und Entschlossenheit, sich innerhalb der Universitäten zu organisieren. Sie halten es für eine mutige Haltung und viele unterstützen unsere Ideen und die Bemühungen, sie zu verbreiten. Im Allgemeinen haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Leute, sobald sie auf der Straße mit uns ins Gespräch kommen, sehr an anarchistischen Ideen interessiert sind.
Arbeitet ihr als Gruppe oder als Einzelpersonen mit den Widerstandskomitees zusammen? Und welche Rolle spielt ihr dort und in der sudanesischen Revolution im Allgemeinen?
Wir sind als Einzelpersonen in den Widerstandskomitees aktiv. Wir unterstützen Streiks, Rebellionen und Proteste im öffentlichen Diskurs und auch vor Ort.
Was sind eurer Meinung nach die größten Stärken und Schwächen der Widerstandskomitees?
Bis jetzt sehen wir keine größeren Mängel, die Widerstandskomitees sind sehr effektiv bei der Organisation des kollektiven Kampfes und des Widerstandes auf nationaler Ebene. Außerdem folgen sie teilweise anarchistischen Idealen, indem sie anti-hierarchische, direkte demokratische und horizontale Organisation praktizieren. Insgesamt ermöglicht dies eine Entscheidungsfindung direkt an der Basis.
Im Moment gibt es einen Prozess der Zusammenführung der Satzungen der Widerstandskomitees zu einer gemeinsamen. Was ist eure Meinung zu den unterschiedlichen Satzungen der Widerstandsausschüsse? Beteiligt ihr euch an diesem Prozess und welches Potenzial seht ihr darin?
Wir haben Vorbehalte gegen einige Punkte in den Chartas, aber an diesen wird noch gearbeitet und die Vereinbarungen in einer endgültigen Charta zusammengeführt. Wir beteiligen uns als Einzelpersonen innerhalb der Widerstandsausschüsse an diesem Fusionsprozess, der tatsächlich das Potenzial haben könnte, die unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Ausschüsse zu vereinen.
Wir verfolgen die sudanesische Revolution mit großer Hoffnung. Dennoch zeigt die Geschichte eine erschreckende Menge konterrevolutionärer Tricks. Befürchtet ihr, dass ihr konterrevolutionären Interventionen ausgesetzt sein werdet, wenn der sudanesische Aufstand an internationaler Bedeutung gewinnt? Welche Kräfte sind im Moment die größte Bedrohung für die Revolution?
In der gesamten Menschheitsgeschichte wurden Revolutionen von denjenigen niedergeschlagen, die an totalitären und militärischen Regimen beteiligt sind. Die ägyptische Revolution ist noch frisch in unserer Erinnerung. Sie war mit vielen Fehlern behaftet und birgt wichtige Lektionen, aus denen wir lernen können, ebenso wie die vielen ähnlichen Ereignisse solcher Art weltweit. Unserer Meinung nach ist die ägyptische Revolution gescheitert, weil bestimmte Länder den Aufstand nicht unterstützt haben. Wir versuchen, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, indem wir Jugendgruppen organisieren, die auf verschiedene Art und Weise im Zentrum der Revolution selbst stehen und auch für die Fortsetzung dieses Kampfes und dessen Weitergabe an mehr Menschen und künftige Generationen entscheidend sein werden. Letztlich ist es unsere Aufgabe, libertäre sozialistische Ideen zu verbreiten, die den Weg für den gewünschten radikalen Wandel ebnen, der das derzeitige Militärregime stürzt.
Was den Sudan betrifft, so unterstützen neben dem sudanesischen Regime auch die Regierungen Russlands, Saudi-Arabiens, Ägyptens, der Emirate, der Türkei und Katars die Konterrevolution, da sie ein persönliches Interesse an den früheren und aktuellen Regimen haben und generell totalitäre Militärregime unterstützen.
Was ist der beste Weg für internationale Genoss*innen, euch zu unterstützen?
Was Maßnahmen betrifft, die internationale Genoss*innen ergreifen können, so begrüßen wir stets Druck durch Medien, Protestkundgebungen und die Unterstützung der revolutionären sudanesischen Gemeinschaften, die Proteste organisieren und ausländische Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des Sudan durch Länder kritisieren, die die unterdrückerische Militärherrschaft unterstützen.
Für uns ist internationale Solidarität wichtig, Druck auf eure Regierungen, aber auch materielle Unterstützung sowie Wissenstransfer und Medienarbeit sind erforderlich.
Anarchistisches Büro für Auslandsbeziehungen im Sudan
(Anarchist Foreign Relations Office in Sudan)
26. August 2022 AD