Eine Analyse der seit dem 19. März stattfindenden Proteste der anarchistischen Gruppen Anarcho Queers, Anarchists from Ankara, Bilgi Gökkuşağı, Bizim Elimizde Campaign Group, Eşitlik Topluluğu, Heimatlos Kültü, Anarchists from Istanbul, Izmir Anarchy, Kuir Uşak, Autonomous Workers’ Associations, OzU LGBTIQ+, VeganEsk, Otonom İşçi Birlikleri.
Übersetzung und Anmerkungen: Sektion Internationalismus von Perspektive Selbstverwaltung. Anmerkungen zum besseren Verständnis nicht im Originaltext enthalten und bei der Übersetzungsarbeit angefügt.
Ursprünglicher Text: https://www.iscibirlikleri.org

Die aktuellen Proteste, die sich an der Verhaftung von mehr als 100 Personen, unter ihnen der Bürgermeister von İstanbul Ekrem İmamoğlu((Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister der Metropolregion İstanbul, ist Parteimitglied der CHP und einer der aussichtsreichsten Gegenkandidaten zu Recep Tayyip Erdoğan bei den nächsten Wahlen.)), entzündeten, weiten sich immer mehr aus. Sie haben einen militanten Charakter angenommen und sind trotz der Bemühungen der CHP((CHP: Die Cumhuriyet Halk Partisi (Kurzbezeichnung: CHP; türkisch für „Republikanische Volkspartei“) ist die zweitgrößte Partei des Landes. Sie wurde 1923 vom autoritären Herrscher, Staatsgründer und ersten türkischen Präsidenten, Mustafa Kemal Atatürk gegründet und ist somit die älteste aktive Partei des Landes. Sie ist Hauptträgerin der Staatsideologie „Kemalismus“ und seit den 1960er Jahren zudem sozialdemokratisch ausgerichtet. )), sie einzudämmen, zu Massenprotesten geworden, bei denen Universitätsstudenten an vorderster Front stehen. Auch wenn der Auslöser für diese Proteste der Konflikt zwischen den beiden regierenden Cliquen((Hiermit ist der langfristige politische Kampf zwischen der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi [„Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“]; konservativ-rechte, religiös aufgestellte bürgerliche Partei mit bei-osmanischen Zielen und autoritärem Charakter; Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan; aktuell in einer „Volksallianz“ mit der faschistischen MHP[der parteipolitische Arm der Bozkurtlar/Graue Wölfe) und den kemalistischen, sozialdemokratischen Kräften wie der CHP (siehe oben) auf der anderen Seite gemeint. Zudem gilt es als unumstritten, dass es in der Türkei eine Struktur aus Militär und Bürokratie gibt, die oft als „Tiefer Staat“ bezeichnet wird und sich der konkurrierenden regierenden Cliquen bedient um das nationalstaatliche Projekt Türkei zum Erfolg zu führen. Auch dies schwingt im Begriff „Konflikt der regierenden Cliquen“ stets mit, ist die CHP doch nominell in der Opposition.)) in ihrem Kampf um die Macht war, ist klar, dass die Wut, die sich entlädt, weit über die Verhaftung von İmamoğlu hinausgeht.
Es ist kein Zufall, dass heute junge Menschen, die Arbeiter*innen der Zukunft und von heute, an der Spitze des Kampfes stehen, denn ihre Zukunft ist ungewiss geworden und viele von ihnen sind gezwungen gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren. Die Wut, die sich aktuell auf der Straße zeigt, ist jedoch eine Folge von vielen Faktoren – der zunehmenden Verarmung von Millionen von Menschen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können um zu überleben, der Tag für Tag steigende Druck durch die Wirtschaftskrise(( Spätestens seit 2018 ist die Bevölkerung des türkischen Staates zunehmend von einer Wirtschaftskrise und Inflation betroffen. 2014 war 1€ noch 3 türkische Lira wert, heute ist der Wechselkurs 1 zu 40,80. Konkrete Auswirkungen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise für Wohnen, Heizen, Grundnahrungsmittel. Die Suppenküchen der großen Städte sind am Limit, am Wochenmarkt kann Obst und Gemüse mit Karte gezahlt werden, denn viele Menschen können ihr Obst und Gemüse nur noch mit der Kreditkarte erwerben. In Istanbul liegt ein monatliches Gehalt nach Mindestlohn unter den durchschnittlichen Mietkosten – laut offiziellen Angaben bekommen 40% der Arbeiter*innen lediglich Mindestlohn. Die Arbeitsbedingungen der Menschen sind prekärer den je und die Verschuldung der Menschen nimmt stetig zu.)), die endlosen Morde an Frauen, der Unterdrückungs- und Angriffspolitik gegen LGBTI+-Personen, der Massaker an Tieren((Seit 2024 geht der türkische Staat massiv gegen Straßentiere vor. Im kulturellen Selbstverständnis der Menschen in Anatolien & Mesopotamien haben Straßentiere einen hohen Schutzstatus, die großen Städte sind von unglaublich vielen Katzen und Hunden bevölkert, die von den Anwohner*innen durchgefüttert, gepflegt und geliebt werden. Nicht selten gibt es kleine Statuen im Andenken an besonders ikonische Straßentiere und wenn im İstanbuler Café der einzige freie Tisch von einer oder mehreren Katzen besetzt ist, dann haben Gäste meist Pech gehabt. Die Gesetzesänderungen in 2024 und die folgende Kampagne zur Tötung der Straßentiere stieß insofern auf großen Protest und Unmut im Land.)), der Angriffe gegen das kurdische Volk trotz der sogenannten Friedensgespräche und der Tatsache,dass das Leben von Millionen von Menschen aufgrund der auf Unterdrückung und Zwang basierenden Politik der Regierung unerträglich geworden ist. Wir können beobachten, dass sich diese Wut auf der Straße nicht nur gegen die AKP-MHP-Regierung richtet, sondern auch gegen die CHP, die seit Jahren vermeintlich oppositionell ist, sich jedoch in jedem kritischen Moment zum Handlanger der Regierung gemacht hat, indem sie die Möglichkeit sozialer Explosionen in jeglicher Krise eindämmte, die wütenden Menschen besänftigte, zur Ordnung rief und versuchte, Energie auf die nächsten Wahlen zu lenken. Die Menschen haben erkannt, dass Wahlen nutzlos sind und dass es keinen anderen Weg zur Befreiung gibt als den Kampf. An diesem Punkt ist es klar, dass die Menschen, die auf die Straße gehen, nicht einfach durch Repression gestoppt werden können, noch können sie von der CHP im Dienste ihrer eigenen Agenda manipuliert werden.
Andererseits müssen wir erkennen, dass es Grenzen für das gibt, was diese Proteste aktuell sind und erreichen können. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass diese Protestbewegung ein Instrument der Auseinandersetzung zwischen den herrschenden Kräften bleibt oder einfach verpufft, denn die Proteste sind in ihrem Charakter eine Reaktionsbewegung, die kein Klassenbewusstsein aufweist und deren politische Inhalte und Forderungen vage/unklar sind. Die Bewegung hat jedoch auch das Potenzial, zu wachsen, sich zu radikalisieren und reale, dauerhafte Erfolge zu erzielen, wenn es geschafft wird, sie mit den schon länger bestehenden Kämpfen zu verbinden. So zeigen seit Anfang 2025 wilde Streiks((Wilde Streiks: mit der Verschlimmerung der Wirtschaftskrise & Inflation in 2022 begann eine noch immer anhaltende und wachsende Welle von wilden Streiks. Diese Form der direkten Aktion ist notwendig geworden, da legale Streiks mit Gewerkschaften in der Praxis nahezu unmöglich sind. Unsere anarchistischen Genoss*innen vor Ort arbeiten an der Dokumentation und Auswertung der Streiks – einerseits um der Bewegung ein klassenkämpferisches Bewusstsein zu geben, aber auch um eine Art „Toolbox“ für die Organisation eines wilden Streiks zu bieten. Für den türkischen Staat sind diese Entwicklungen zu einer solchen Gefahr geworden, dass er mit Zuckerbrot und Peitsche reagiert – einer Mindestlohnerhöhung von 30% und harten Repressionen gegen die Streiks (siehe auch https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189822.proteste-tuerkei-gewerkschafter-im-visier.html). Die Streiks reißen jedoch nicht ab und nehmen weiter zu. Wenn du unsere anarchistischen Genoss*innen in der Türkei dabei materiell unterstützen möchtest, dann kannst du das mit diesem Fundraiser tun und mit Freund*innen und Genoss*innen teilen: https://www.goodcrowd.org/building-consciousness-for-wildcat-strikes)) und der Widerstand der Arbeiter*innen in zahlreichen Städten, der Widerstand von Frauen und LGBTI+-Personen trotz aller Arten von Unterdrückung und Gewalt, die Kämpfe gegen Umweltzerstörung und Massaker an Straßentieren, dass der Geist des Widerstands in dieser Region trotz allem lebendig geblieben ist. Diese Welle des Kampfes wurde nicht durch Politiker in Anzügen, Gewerkschaftsbürokraten oder reiche Tycoons, und ihre Handlungen ausgelöst, sondern durch Arbeiter*innen, Arbeiter*innenkinder und Einzelpersonen, die sich aktiv an den oben genannten Kämpfen beteiligt haben.
Es ist möglich, die Welle des Kampfes mit Klassenforderungen und Diskursen zu verstärken, und genau das müssen wir tun. Wir sollten uns an diesem Kampf beteiligen, nicht als stabilisierender, unterstützender Faktor im Kampf der Parteien um die Macht, sondern auf organisierte Weise, mit der Perspektive, die aktuellen Probleme und Forderungen der Arbeiter*innenklasse, der Frauen* und all derer, die unterdrückt und diskriminiert werden, zu artikulieren und diese in die Forderungen der Bewegung zu verwandeln. Andererseits müssen wir versuchen, verschiedene Teile der Arbeiter*innenklasse, die bereits mit Streiks und Widerstand kämpfen, in den Kampf einzubeziehen.
Wir müssen diesen Kampf von der Straße zu unseren Arbeitsplätzen und von unseren Arbeitsplätzen auf die Straße bringen. Wir dürfen das Schicksal des Kampfes nicht den Worten von Politikern in Anzügen überlassen. Dazu müssen wir selbstverwaltete Entscheidungsmechanismen in unseren Betrieben, Schulen und Nachbarschaften schaffen, in denen wir unsere wirtschaftlichen und politischen Probleme diskutieren und unsere konkreten Forderungen festlegen können. Die Foren, die nach dem Gezi-Widerstand entstanden sind, waren wichtige Erfahrungen, die wir in dieser Hinsicht gemacht haben, und wir müssen diese Erfahrungen weiterentwickeln und wiederbeleben. Nur so kann der Kampf von Dauer sein und zu Erfolgen führen.
Wir werden gewinnen, indem wir Widerstand leisten!
In der Einheit liegt unsere Stärke!