Krieg dem Krieg – Anarchistischer Diskussionsbeitrag

Im Krieg in der Ukraine gibt es für die Leute von unten keine Seite, auf die wir uns moralisch schlagen sollten. Weder die imperialistischen Truppen der NATO noch die russische Oligarchie um Putin, unterstützt unter anderem durch Belarus, sind unsere Verbündeten.
Die (radikale) Linke sollte nicht die Perspektive von Staaten einnehmen, sondern einen Standpunkt, der die Interessen der Menschen vertritt. Insbesondere jener Menschen, die auf beiden Seiten der Frontlinie am meisten unter dem Konflikt zu leiden haben.

Wir stellen zwar Forderungen nach Waffenstillstand und Frieden auf, aber unsere Genoss*innen vor Ort wollen und können sich teilweise nicht der Konfrontation entziehen und in einer moralisch überlegenen Ohnmacht verharren. Wir erleben den Krieg nur von Fernseher und Smartphone aus, erleben keine nächtlichen Bombardements und müssen uns nicht in einer Realität einfinden, die uns vor die Wahl zwischen unseren abstrakten Forderungen und Werten und aktuellen Konfliktszenarien stellt.

Es ist schwierig klare Forderungen, die nicht populistisch oder realitätsfern sind, zu finden und gleichzeitig an einer friedenspolitischen Haltung festzuhalten. Wir selbst haben keine einheitliche Meinung zu angebrachten Reaktionen, Forderungen oder Beteiligungen einer anarchistischen Perspektive auf den Krieg. Unsere Forderungen bleiben dabei in einer Schwebe zwischen realpolitischen Notwendigkeiten, wie die Forderungen nach:

  • einem sofortigen Stopp aller Bombardierungen und dem Schutz der Zivilbevölkerung
  • einem umfassenden Waffenstillstand
  • einem Zurück an den Verhandlungstisch mit der Suche nach einer politischen statt militärischen Lösung
  • der Unterstützung der Perspektive der Unterdrückten und Ausgebeuteten

… sowie unseren anarchistischen Perspektiven, die für eine nachhaltige, aber leider weit entfernte Konfliktlösung stehen.

Im Folgenden wollen wir die Stimmen von einigen Anarchist*innen aus der Region hervorheben.

Einige Anarchistische Stimmen vor Ort ¹ ²

Für viele Anarchist*innen in der Ukraine, Belarus und Russland ist klar: Sie wollen nicht für irgendwelche Staaten eintreten. Sie sehen sich als Anarchist*innen und sind damit gegen jegliche Grenzen zwischen Nationen. Gleichzeitig sind viele gegen diese Annexion, weil sie nur neue Grenzen schaffe, und die Entscheidung darüber allein der autoritäre Führer – Wladimir Putin – treffe.
Den Angriff Russlands betrachten sie klar als einen Akt der imperialistischen Aggression. 
Viele unterstützen direkt oder indirekt die ukrainische Unabhängigkeit.
Denn sie betrachten die Ukraine trotz aller nationalen Stimmungsmache, Korruption und einer großen Zahl Nazis im Vergleich zu Russland und den von ihm kontrollierten Ländern wie eine „Insel der Freiheit“. In der Ukraine bewahre man im post-sowjetischen Raum „einzigartige Phänomene“ wie die Abwählbarkeit des Präsidenten, ein Parlament, das mehr als nur nominelle Macht hat, und das Recht, sich friedlich zu versammeln; in einigen Fällen, wenn die Öffentlichkeit gerade darauf achtet, funktionieren die Gerichte manchmal sogar gemäß ihrem erklärten Protokoll.
In der Ukraine gibt es viele Probleme, die aber am ehesten ohne die Einmischung Russlands gelöst werden können.
Abgesehen davon ist absolut nicht davon auszugehen, dass Putin tatsächliche antifaschistische Bestrebungen hegt und Neonazis bekämpfen will, wenn er behauptet der Angriff auf die Ukraine sei eine „Entnazifizierungs-Kampagne“. Vielmehr geht es Russland, sowie der NATO, um geopolitische Interessen und Machtkämpfe, die hierdurch gerechtfertigt werden sollen.
Die Anarchist*innen vor Ort machen sich keine Illusionen über den ukrainischen Staat, aber es ist klar, dass er nicht der Hauptaggressor in dieser Geschichte ist – dies ist keine Konfrontation zwischen zwei gleichwertigen Gegnern.
Sie diskutieren verschiedene Szenarien ihrer Partizipation in dem Konflikt. Zu den Optionen, die ukrainische Anarchist*innen derzeit in Betracht ziehen, gehören der Beitritt zu den Streitkräften der Ukraine, die Beteiligung an der Territorialverteidigung, der Aufbau von Guerilla Einheiten und die Bereitstellung von zivilen Freiwilligen. Einige halten Slogans wie »Nein zum Krieg« oder »Der Krieg der Imperien« für unwirksam und populistisch.
Zu ihrer Motivation gehört nicht zuletzt, dass sie diesen Krieg in erster Linie als Krieg gegen Putin und die von ihm kontrollierten Regime einordnen: „Neben der banalen Motivation, nicht unter einer Diktatur zu leben, sehen wir das Potenzial der ukrainischen Gesellschaft, die eine der aktivsten, unabhängigsten und rebellischsten in der Region ist.“.
In ihrer Haltung zur NATO sind anarchistische Aktivist*innen gespalten. Grundlage dieser Haltungen ist die Realität, dass die anarchistische oder auch linksradikale Bewegung weder in der Ukraine noch anderswo über ausreichende Ressourcen verfügt, um bedeutenden Einfluss auf derartige Konflikte zu nehmen, geschweige denn effektiv auf die Invasion des Putin-Regimes zu reagieren.
Dabei ist offensichtlich, dass die Ukraine Russland militärisch nicht allein entgegentreten kann – selbst wenn man die große Freiwilligenbewegung berücksichtigt, werden moderne Technologien und Waffen benötigt. Abgesehen von der NATO hat die Ukraine keine anderen Verbündeten, die ihr dabei helfen könnten, somit muss darüber nachgedacht werden, Unterstützung von der NATO anzunehmen.
Sie nennen dabei die Geschichte von Nord-Ost Syrien / Rojava. Die lokalen Kräfte waren gezwungen, mit der NATO zu kooperieren – die einzige Alternative war zu fliehen oder getötet zu werden. Ihnen ist bewusst, dass die Unterstützung durch die NATO sehr schnell verschwinden kann, wenn der Westen neue Interessen entwickelt oder es schafft, einige Kompromisse mit Putin auszuhandeln.
Aktuell ist es dennoch notwendig, die Menschen vor Ort vor Kriegshandlungen wie Bombardierungen zu schützen, gleichzeitig ist eine langfristige Befreiung der ukrainischen Arbeiter*innen/Bevölkerung nicht durch die Einbeziehung in den westlichen Imperialismus und die NATO, sondern nur durch den Abzug aller ausländischen Truppen möglich.

Was wir hier tun können

Klar bleibt: Krieg dem Krieg

Wir wollen die Aktivist*innen vor Ort unterstützen – sowohl in ihrer humanitären Hilfe, im organisierten Selbstschutz als auch im politischen Protest unter anderem in Russland.
Wir können außerdem teilweise seit Jahrzehnten bestehende Strukturen unterstützen, wie die DfG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen), die Informationsstelle Militarisierung oder das Rheinmetall Entwaffnen Bündnis.
In Berlin sind zahlreiche Rüstungsunternehmen² und Profiteure von Kriegen ansässig – lasst uns Ihnen keine Ruhe lassen! 
Lasst uns ein potentielles Aufleben der „Friedensbewegung“ nicht wie im sogenannten „Friedenswinter“ Verschwörungstheoretiker*innen und Antisemit*innen überlassen.
Anarchist*innen aller Länder vereinigt euch!