„Von der Straße zu unseren Arbeitsplätzen und von unseren Arbeitsplätzen auf die Straße!“

Die Bilder, die wir in diesen Tagen von den Protesten in den türkischen Städten sehen, sind spektakulär und die Reaktionen darauf wechseln zwischen Belustigung und Verwirrung hin und her: Ein riesiges Pikachu wird von der Polizei gejagt, junge Männer machen Liegestütze, während sie von der Polizei mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen werden, Demonstranten versuchen, sich mit der türkischen Nationalflagge vor der Polizei zu schützen, Barrikaden werden durchbrochen, Mitglieder der Oppositionspartei überreichen den Polizisten Blumen und Simit, ein Mann rennt unter Wasserwerferbeschuss auf die Polizei zu, um nach einem Feuerzeug für seine Zigarette zu fragen. Es ist zeitweise schwierig, diese Bilder zu betrachten, die in den sozialen Medien als Ausdruck einer humorvollen Gen-Z-Protestkultur verbreitet werden, und sich nicht am Kopf zu kratzen. Und es kann sogar noch schwieriger werden zu verstehen, was in Anatolien und Mesopotamien in diesen Tagen tatsächlich vor sich geht, wenn man feststellt, dass die bürgerlichen Medien unisono Bilder eines Sufi-Derwischs mit einer Gasmaske auswählen, während sie die Proteste meist nur als einen Aufstand aus Wut über die Verhaftung eines Oppositionskandidaten darstellen. In diesem kurzen Text werden wir versuchen, uns von den sensationsheischenden Berichten zu lösen und die aktuellen Entwicklungen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Demonstrant*in in Istanbul mit Gasmaske und Schild "The revolution will not be televised". Von: cpj.org

Bild: Demonstrant*in in Istanbul mit Gasmaske und Schild „The revolution will not be televised“. Von: cpj.org

In einer gemeinsamen Erklärung verschiedener anarchistischer Gruppen und Organisationen1 haben unsere Genoss*innen in der Türkei deutlich gemacht, dass die Verhaftung des Politikers Ekrem İmamoğlu2 lediglich der unmittelbare Auslöser für die oft militanten Proteste war, die am selben Tag ausbrachen, aber nicht die alleinige Ursache, wie westliche bürgerliche Medien gerne suggerieren wollen. Nicht nur hat Erdogan mit seinem immer stärker autoritären Regierungsstil in den mehr als 20 Jahren seiner Herrschaft und der seiner AK-Partei für enormen Unmut in vielen Teilen der türkischen Gesellschaft gesorgt; die Türkei ist auch ein in viele verschiedene Ethnien, religiöse Gruppen und politische Fraktionen zersplitterter Staat – trotz all der massiven Propaganda der türkischen Geschwisterlichkeit, die den Bewohnern dieses Landes seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 aufgezwungen wurde. In diesem Artikel haben wir nicht den Platz, eine umfassende historisch-politische Analyse der letzten 100 Jahre vorzunehmen und zu erklären, wie es zu einer politischen Situation kam, in der die türkische Polizei Pikachu jagt. Nichtsdestotrotz können wir die jüngere Vergangenheit und die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei nicht verstehen, ohne für einen Moment in die Anfangsjahre der türkischen Republik zurückzugehen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Als Mustafa Kemal, später Atatürk (Vater der Türken) genannt, 1923 die Gründung der Türkischen Republik ausrief, tat er dies aus einer Position der Stärke heraus, die er und sein Gefolge aus ihrem militärischen Hintergrund und den Erfolgen im Ersten Weltkrieg bezogen. Die militärischen Erfolge im anschließenden Unabhängigkeitskrieg, in dem es den westlichen Staaten im Wesentlichen darum ging, das ehemalige Osmanische Reich in Einflusssphären für sich und ihre Verbündeten in der Region aufzuteilen, trugen weiter zur einzigartigen Bedeutung Kemals für den jungen türkischen Staat bei. Der Staatsgründer formte die Grenzen um den anatolischen und mesopotamischen Raum, die bis heute die anerkannten Grenzen des türkischen Staates sind (zumindest weitestgehend unverändert). Für diese Leistung gefeiert, sahen sich Atatürk und seine Anhänger, die sich später „Kemalisten“ nannten (in Anlehnung an Atatürks bürgerlichen Nachnamen „Kemal“), in der Lage, ein Programm zur radikalen Neugestaltung der ethnischen Zusammensetzung sowie des religiösen, bürgerlichen und kulturellen Lebens der historisch äußerst vielfältigen anatolischen Halbinsel und Mesopotamiens zu verfolgen. Ihre Hauptinspirationsquelle war das westeuropäische kapitalistische und nationalstaatliche Modell – insbesondere der französische Republikanismus und die Laïcité3 – und das offizielle politische Programm lautete, die Türkei nach diesem Vorbild zu gestalten.

Um dies zu erreichen und einen möglichen Widerstand gegen dieses Programm zu ersticken, griff die türkische Führung (teilweise in Zusammenarbeit mit anderen Nationalstaaten) zu Methoden, die als Fortsetzung der Zwangsumsiedlung und des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg angesehen werden können, indem sie einen brutalen Bevölkerungsaustausch mit Griechenland durchführte, durch die Neugestaltung der türkischen Sprache mittels der Auslöschung eines Großteils des nicht-türkischen Vokabulars, die strategische Umsiedlung der türkischen Bevölkerung des Landes in Regionen, die zuvor von nicht-türkischen Minderheiten dominiert worden waren, und die Durchsetzung des Narrativs einer vereinten türkischen Nation für alle Bürger des Landes. Unter der Herrschaft Atatürks erhielten auch die Frauen das Wahlrecht und viele andere Freiheiten, die in vielen Ländern des westlichen Blocks zu diesem Zeitpunkt noch nicht umgesetzt worden waren.

Bild: Mustafa Kemal präsentiert vor einer Schulklasse und Medienvertretern das neue, für alle verpflichtende Alphabet des Landes. Bücher, Zeitungen in arabischer Schrift werden in kürzester Zeit verboten.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der radikalen kemalistischen Kulturreformen war die Zurückdrängung des Einflusses religiöser Institutionen, unter anderem durch die Abschaffung des Kalifats in Istanbul, das Verbot des Gebets und des Gebetsrufs in arabischer Sprache und das Diktat des Inhalts der Freitagspredigten in jeder Moschee des Landes durch die staatliche religiöse Institution Diyanet (Diyanet existiert bis heute und diktiert auch die Freitagsgebete in den DİTİB-Moscheen in Westeuropa). Darüber hinaus wurde das ganze Land gezwungen, auf das lateinische Alphabet umzusteigen, wodurch die religiösen Institutionen und Führer monatelang praktisch ihrer öffentlichen Kommunikationsmittel beraubt wurden, mit dem Ziel, die Türkei näher an Westeuropa heranzuführen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass die Praxis, den Einfluss der religiösen Führer aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, unter diesen und den religiösen Türken, insbesondere in den ländlichen Gebieten, eine enorme Wut und Unzufriedenheit hervorrief. Es bestand eine große Kluft zwischen ihrer Alltagswirklichkeit und den „Segen“ des westlichen bürgerlichen Lebensstils, den die Eliten in den Großstädten genossen. Darüber hinaus hatte die Religion damals wie heute eine wichtige soziale Funktion. Gemeinsam mit der Niederschlagung zahlreicher Aufstände gegen diese von oben verordnete Kulturrevolution kam es im Land zu zahlreichen Spaltungen – ethnisch, zwischen den Klassen und mehr; wobei einer der wichtigsten Gegensätze der zwischen den religiösen ländlichen Gemeinschaften und den städtischen kemalistischen Eliten war (in der türkischen Soziologie ist in diesem Zusammenhang auch von den schwarzen und den weißen Türk*innen die Rede). Es ist wichtig, dieses Element der Geschichte des Landes zu verstehen, denn nachdem viele politische Bewegungen und Politiker*innen, die versucht hatten, den politischen Ansatz des türkischen Staates gegenüber dem sunnitischen Islam zu ändern, inhaftiert, getötet oder durch einige der vier Militärputsche in den ersten 80 Jahren der Geschichte der Republik hinweggefegt worden waren, waren es diese faktisch diskriminierten und unterdrückten religiösen Gemeinschaften, die den heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan 2002 an die Macht brachten. Zuvor war er nach der Rezitation eines religiösen Gedichts vier Monate lang inhaftiert worden und durfte keine offiziellen politischen Ämter bekleiden, bis dieses politische Verbot zwei Jahre nach dem Regierungsantritt seiner Partei aufgehoben wurde.

Die Einrichtung politischer Parteien und einer parlamentarischen Demokratie in den späten 1930er Jahren führte zu einer starken religiös motivierten Opposition gegen die von Atatürk selbst gegründete Staatsideologie Kemalismus und ihren parlamentarischen Arm, die CHP-Partei4, sowie zu einer schnell wachsenden sozialistischen Bewegung5. Um diese Entwicklungen in den Griff zu bekommen, reagierten die kemalistischen Eliten des Landes mit dem Aufbau einer Struktur innerhalb des Militärs und der staatlichen Institutionen, die für die Öffentlichkeit nicht sichtbar war, aber nachweislich die politischen Entwicklungen im Land immens beeinflusste, indem sie die gewählten Amtsträger politisch beeinflusste, Killerkommandos anheuerte, um Oppositionelle auszuschalten, Einfluss auf die Medien und die Justiz nahm, zahllose Kurd*innen und Sozialist*innen durch die Geheimpolizei Gendarmerie JİTEM brutal foltern und ermorden ließ und mehrfach Militärputsche durchführte – unter anderem, um einen religiös-konservativen Ministerpräsidenten zu verhindern oder die starke und sehr militante kommunistische Bewegung Ende der 70er Jahre zu schwächen. In Westeuropa wird das Gerede von einer solchen geheimnisvollen, konspirativen Struktur oft als Verschwörungstheorie abgetan, doch im Falle der türkischen Republik ist die Existenz eines so genannten „Tiefen Staates“ anerkannt und erwiesen. Er war in zahlreiche politische Skandale und Morde verwickelt, wie z.B. das Massaker auf dem Taksim-Platz in İstanbul (1977), bei dem (mindestens) 34 Demonstranten auf einer Gewerkschaftsdemonstration mit einer Viertelmillion Teilnehmern getötet wurden.

1. Mai Demonstration auf dem Taksim-Platz in İstanbul, 1977. Zum Selbstschutz mit Holzschlägern bewaffnete Gewerkschaftsdemonstrant*innen tragen Verletzte und  fliehen vor dem Beschuss von den Dächern umliegender Gebäude und vor den gepanzerten Fahrzeugen der Polizei.

Bild: 1. Mai Demonstration auf dem Taksim-Platz in İstanbul, 1977. Zum Selbstschutz mit Holzschlägern bewaffnete Gewerkschaftsdemonstrant*innen tragen Verletzte und  fliehen vor dem Beschuss von den Dächern umliegender Gebäude und vor den gepanzerten Fahrzeugen der Polizei.

Bei der Analyse einer neuen politischen Entwicklung in der Türkei muss die mögliche Beteiligung von Strukturen des Tiefen Staates deshalb stets berücksichtigt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der neue Prozess um Öcalan und dessen Aufruf, die PKK aufzulösen. Die Initiative für diesen Prozess wurde von niemand anderem als dem faschistischen Vorsitzenden der MHP-Partei Devlet Bahçeli gestartet und vorangetrieben. Dies hat die meisten Menschen überrascht und zu Theorien geführt, dass der tiefe Staat Bahçeli in einem Moment der historischen Schwäche der kurdischen Bewegung benutzt hat, um einen Schritt zur politischen Auslöschung des bewaffneten Widerstands zu machen. Dies scheint eine stichhaltige Theorie zu sein, da lange Zeit sogar die Existenz einer kurdischen Identität von den Kemalisten als Bedrohung für den Erfolg des türkischen Nationalprojekts betrachtet wurde – sei es durch die offizielle Politik der CHP oder durch die eher versteckten und geheimnisvollen Aktionen des tiefen Staates. Der verschwiegene Charakter des türkischen Tiefen Staates macht es jedoch schwierig, diese Ereignisse zu analysieren. Theorien wie diese müssen daher mit äußerster Vorsicht genossen werden.

Vermummter Demonstrant*in mit einem Bild von Berkin Elvan, 2013 bei den Gezi-Protesten durch eine von der Polizei zur Schusswaffe umfunktionierten Tränengaskartusche ermordet. Von: cidemi.art

Bild: Vermummter Demonstrant*in mit einem Bild von Berkin Elvan, 2013 bei den Gezi-Protesten durch eine von der Polizei zur Schusswaffe umfunktionierten Tränengaskartusche ermordet. Von: cidemi.art

Verschiedene Fragmente zum Verständnis des aktuellen Aufstandes

Nachdem wir nun einige der historischen Wurzeln beleuchtet haben, die notwendig sind, um zu verstehen, wie die politischen Entwicklungen in der Türkei verlaufen und welche politischen Kampflinien in der politischen Landschaft des Landes existieren, können wir uns wieder dem zuwenden, was in diesen Tagen auf den Straßen des Landes geschieht.

Am 19. März 2025 wurde der Bürgermeister des Grossstadtgebiets von İstanbul und CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu wegen angeblicher Unterstützung der PKK und Korruption verhaftet. In Anbetracht des Ausmaßes der Korruption innerhalb der derzeitigen AKP-MHP-Regierung und der Tatsache, dass Regierungsmitglied und Faschistenführer Devlet Bahçeli erst kürzlich einen neuen Prozess mit der PKK begonnen hat, erscheinen diese Anschuldigungen vielen Türken lächerlich (generell lässt sich jedoch sagen, dass die Einführung/Initiierung kontroverser Themen/Politiken oft anderen politischen Figuren als Tayyip Erdoğan überlassen wird und später häufig von Erdoğan übernommen wird. Diese Praxis dient dem Zweck, dass Erdoğan im Verlauf möglichst wenig politischen Schaden nimmt). Nur wenige Stunden nach der Verhaftung strömten Tausende von Menschen in İstanbul auf die Straßen, obwohl ein totales Verbot öffentlicher Versammlungen galt. Generell lässt sich sagen, dass die türkische Protestkultur weitaus entschlossener und militanter ist als in Westeuropa (insbesondere in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden). Dies hängt sicherlich mit dem extremen Ausmaß an politischer Gewalt und der harten Repression zusammen, der jede*r ausgesetzt ist, der*die sich gegen die Politik des Staates wendet. Dies führt dazu, dass sich die Menschen sehr bewusst sind, dass sie für ihre politischen Ideale möglicherweise ihre Gesundheit und Freiheit, vielleicht auch ihr Leben opfern müssen. Auch haben individualistische Tendenzen, wie sie in Westeuropa zu beobachten sind, in der Türkei noch nicht so sehr in den kollektiven Denkweisen der Menschen Fuß gefasst, was Raum für eine stärker gemeinschaftsorientierte Mentalität (mit all ihren Komplexitäten) lässt. Dies führt unter anderem zu einer ausgeprägten Kultur des politischen Hungerstreiks und sogar des Todesstreiks sowie zu einem wesentlich militanteren und opferbereiten Verhalten bei Protesten. Es könnte auch einer der Gründe dafür sein, dass, wie unsere GenossInnen in der Türkei in ihrer Erklärung schreiben: „Der Geist des Widerstands hat sich in diesen Landen trotz allem erhalten“. Mit „trotz allem“ beziehen sie sich auf die politische Vorgeschichte, die weiter oben in diesem Text beschrieben wurde, sowie auf die jüngsten Umwälzungen in der Türkei: wilde Streiks und Arbeiter*innenwiderstände in verschiedenen Städten, der Widerstand von Frauen und LGBTI+-Personen trotz aller Arten von Unterdrückung und Gewalt, die fortgesetzte Unterdrückung der Kurden und ihr Widerstand dagegen, die Kämpfe gegen die ökologische Zerstörung und die Massaker an Straßentieren6.

Protest in İstanbul; Aufschrift auf dem Schild: "Korkma - Hab keine Angst"; Von: cidemi.art

Bild: Protest in İstanbul; Aufschrift auf dem Schild: „Korkma – Hab keine Angst“; Von: cidemi.art

Aber was hat die Menschen dazu gebracht, zu rebellieren und zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen und solche Risiken für sich und ihre Nächsten einzugehen, einmal abgesehen von der Motivation der CHP-Anhängerschaft, ihren wichtigsten Kandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen zu schützen? Was bringt die traditionell vorsichtige und gesetzestreue CHP dazu, in Zeiten der Wirtschaftskrise zum Boykott von Firmen und Unternehmen aufzurufen, die mit dem AKP/MHP-Regime7 verbunden sind? Die Antwort ist nicht einfach, denn die Protestbewegung ist in verschiedene Ideologien und Überzeugungen zersplittert. Es sind nicht nur Kommunist*innen, Anarchist*innen und Liberale, die im vergangenen Monat neben den CHP-Anhänger*innen auf die Straßen der meisten Großstädte strömen, sondern auch viele Faschist*innen, die das Ende des Regimes fordern. Vor allem die faschistische Aktivität bei den Protesten wird in den westlichen bürgerlichen Medien selten erwähnt, da dies die Frage aufwerfen würde, warum diese Menschen auf die Straße gehen und protestieren, wo doch eine faschistische Partei (MHP) an der Regierung ist und viele Politiken der letzten mehr als 20 Jahre so sehr zu ihren Gunsten wirken?

Ein Blick zurück auf die Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 zeigt, dass heterogene Proteste in der neueren Geschichte der Türkei kein Einzelphänomen sind. Im Fall der Gezi-Proteste zeichnet sich ebenfalls das Bild einer politisch äußerst vielfältigen Protestbewegung, die radikale linke Gruppen, antikapitalistische Muslime, HDP8-Anhänger und Bozkurtlar (die faschistische Organisation „Graue Wölfe“) in derselben Protestbewegung einschloss. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass sich Faschisten wie die nationalistische Gen-Z-Jugend „Kanzi“, die mit der aktuellen Regierung nicht konform gehen (der rechtsextreme Führer der Zafer-Partei, Özdağ, ist beispielsweise bereits seit Anfang 2025 im selben Silivri-Gefängnis wie İmamoğlu inhaftiert), den Protesten anschließen. Daher ist die aktuelle Protestwelle als ebenso extrem heterogen zu betrachten wie die Gezi-Protestbewegung von 2013. Denn alle diese Oppositionellen sind von der zunehmenden Einschränkung der politischen und persönlichen Freiheit und der fehlenden Meinungsfreiheit durch die AKP/MHP-Regierung sowie der Wirtschaftskrise betroffen (dazu später mehr). In diesem Sinne kann die gewaltsame und brutale Herrschaft der AKP in den letzten mehr als 20 Jahren als ein starker verbindender Faktor für die Gezi Protestbewegung und die von Heute angesehen werden.

Bild: Protestierende in Ankara, viele der jungen „Kanzi“- Anhänger zeigen den faschistischen Wolfsgruß, Erkennungszeichen der faschistischen Bewegung in der Türkei. Von: AP

Viele der Gen-Z-Demonstranten, die die Polizei in albernen Kostümen angreifen (was übrigens auch ein Mittel ist, um ihre Identität zu verschleiern – wer sich die aktuelle Protestwelle genauer anschaut, ist sehr beeindruckt, wie viele der Demonstranten als Reaktion auf die brutale Unterdrückung Masken tragen oder ihre Gesichter auf andere Weise verbergen), haben nie eine Türkei ohne die Herrschaft von Erdoğan erlebt und in ihrem Leben unzählige schamlose Fälle von politischer Gewalt und Korruption erfahren. Unsere Genossinnen und Genossen nennen in ihrer Erklärung eine Reihe von Beispielen: „[…] die endlosen Morde an Frauen, die Unterdrückungs- und Angriffspolitik gegen LGBTI+-Personen, die Massaker an Tieren, die Angriffe gegen das kurdische Volk trotz der sogenannten Friedensgespräche und die Tatsache, dass das Leben von Millionen von Menschen durch die auf Unterdrückung und Zwang basierende Politik der Regierung unerträglich geworden ist […]“. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen, aber unser Platz ist hier begrenzt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zu dieser (für viele westliche Beobachter chaotischen und verwirrenden) Situation führt, ist die Tatsache, dass viele Menschen in der Türkei den politischen Werdegang des Landes als einen dauerhaften Konflikt zwischen den herrschenden politischen Cliquen verstehen. Dieser Begriff der politischen Cliquen, der sich auch im Statement unserer Genoss*innen aus der Türkei findet, bezieht sich auf den langfristigen politischen Kampf zwischen der religiös motivierten AKP und ihrem Rückhalt in der Bevölkerung (vor allem bei religiösen Menschen) auf der einen Seite und der sozialdemokratischen und kemalistischen CHP auf der anderen Seite. Für viele ist klar, dass der „Tiefe Staat“ diese konkurrierenden Regierungscliquen benutzt, um das türkische Nationalstaatsprojekt zum Erfolg zu führen.

Bild: Konfrontation zwischen der Polizei und sozialistischen Gruppen; Von: Khalil Hamra; AP

Unsere türkischen Genossinnen und Genossen schrieben in ihrem Statement zudem: „Wir können beobachten, dass sich diese Wut auf der Straße nicht nur gegen die AKP-MHP-Regierung richtet, sondern auch gegen die CHP, die seit Jahren vermeintlich oppositionell ist, sich jedoch in jedem kritischen Moment zum Handlanger der Regierung gemacht hat, indem sie die Möglichkeit sozialer Explosionen in jeglicher Krise eindämmte, die wütenden Menschen besänftigte, zur Ordnung rief und versuchte, Energie auf die nächsten Wahlen zu lenken. Die Menschen haben erkannt, dass Wahlen nutzlos sind und dass es keinen anderen Weg zur Befreiung gibt als den Kampf. An diesem Punkt ist es klar, dass die Menschen, die auf die Straße gehen, nicht einfach durch Repression gestoppt werden können, noch können sie von der CHP im Dienste ihrer eigenen Agenda manipuliert werden.“. Allerdings ist dieser Ansatz zum Verständnis des breiten und vielfältigen Charakters der aktuellen Proteste nur ein Teil des Bildes. Es ist auch wichtig, um zu verstehen, warum sogar Faschisten auf die Straße gehen und gegen die Regierung protestieren (wie vorher ausgeführt). Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass es auch in diesem Zusammenhang Theorien gibt, die vermuten, dass die Tiefen Staats Strukturen möglicherweise planen, ihren Einfluss zu nutzen, um Tayyip Erdoğan in naher Zukunft durch İmamoğlu zu ersetzen. In dieser Lesart der Ereignisse wäre die Verhaftung von İmamoğlu ein Versuch der derzeitigen Regierung, ihre Absetzung zu verhindern, und wenn das der Fall wäre, würden sich viele Szenarien für die weitere Entwicklung ergeben, wobei von einem Ausklingen der Proteste bis hin zu Putsch oder Bürgerkrieg allerlei denkbar wäre. An dieser Stelle jedoch nochmal: Aufgrund des unklaren und geheimnisvollen Charakters der Politik des türkischen Tiefen Staates ist es so gut wie unmöglich, irgendwelche fundierten Theorien aufzustellen, die sich auf Fakten stützen, weshalb solche Theorien mit großer Vorsicht zu genießen sind. Die stets aufploppenden Möglichkeiten von einer vielfältigen Involvierung dieser undurchsichtigen Struktur hat jedoch einen großen Einfluss auf Analyse und Denkweise unserer türkischen Genoss*innen, weshalb wir diese Theorien hier nicht komplett unerwähnt lassen können.

Bild: Demonstrant*innen vor einem Gebäude mit der türkischen Fahne, einem großen Atatürk-Banner und einem Wahl-Banner von İmamoğlu. Von: cidemi.art

Ein letzter wichtiger Faktor zum Verständnis des derzeitigen Aufstands ist die katastrophale wirtschaftliche Lage, in die das Land von der herrschenden Regierung manövriert wurde:

Spätestens seit 2018 sind die Menschen in der Türkei zunehmend von einer Wirtschaftskrise und Inflation betroffen. Im Jahr 2014 war 1 Euro noch 3 türkische Lira wert, heute liegt der Wechselkurs bei 1€ zu 40,80₺. Konkrete Auswirkungen sind Arbeitslosigkeit, steigende Preise für Wohnung, Heizung, Grundnahrungsmittel. Die Suppenküchen in den größeren Städten sind am Limit, Obst und Gemüse kann auf dem Wochenmarkt mit Karte bezahlt werden, da viele Menschen ihr Obst und Gemüse nur mit Kreditkarte kaufen können – aus Armut und auch, weil die hohe Inflation das Mitführen großer Bargeldbeträge, die für den wöchentlichen Einkauf notwendig sind, höchst unpraktisch macht. In Istanbul liegt ein Monatsgehalt, das meist dem Mindestlohn entspricht, inzwischen unter den durchschnittlichen Mietkosten, und nach offiziellen Angaben erhalten 40 % der Arbeitnehmer nur den Mindestlohn. Davon sind in besonderem Maß auch junge Menschen betroffen. Unsere Genoss*innen bringen es folgendermaßen auf den Punkt: „[…] es ist kein Zufall, dass die jungen Leute, die Arbeiter der Zukunft und die Arbeiter von heute, deren Zukunft ungewiss geworden ist, von denen viele gleichzeitig arbeiten und studieren müssen, an der Spitze des Kampfes stehen. Die Wut ist auch eine Folge der zunehmenden Verarmung von Millionen von Menschen, die von ihrer Arbeit leben, die Tag für Tag von der Wirtschaftskrise erdrückt werden […]“9 In der Tat vereinen die harten wirtschaftlichen Bedingungen und ein faktisch nicht vorhandener Sozialstaat die Menschen im ganzen Land im Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, obwohl der türkische Staat alles in seiner Macht Stehende tut, um diese Bemühungen zu unterdrücken.

Da die Gewerkschaften in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt sind, kommt es im Land immer häufiger zu wilden Streiks, die mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Inflation im Jahr 2022 begannen. Diese Form der direkten Aktion ist notwendig geworden und unsere anarchistischen GenossInnen vor Ort arbeiten daran, die Streiks zu dokumentieren und auszuwerten. Wir empfehlen hierzu insbesondere die Website der Organisation EYK (Endüstrinin Yaban Kedileri – The Wildcats of the Industry)10 zu besuchen, wo sich Berichte über die laufenden Streiks und weitere Analysen (auch auf Englisch) finden lassen. Das immense Ausmaß der wilden Streiks und der gewerkschaftlichen Aktivitäten sowie die verzweifelte wirtschaftliche Lage vieler Menschen im Lande haben die Regierung indes zu einer Anhebung des Mindestlohns um 30 Prozent gezwungen. Diese Maßnahme, die auf den ersten Blick für westliche Beobachter*innen zwar wie ein Sieg der Arbeiter*innenbewegung aussieht, aber nicht einmal den durch die Inflation verursachten Reallohnverlust ausgleicht, hat insofern auch nicht zu einem Ende der Streikaktivitäten geführt. Diese wichtigen Entwicklungen bringen uns zu einem Schlüsselpunkt in der Analyse der aktuellen Situation unserer Genoss*innen in der Türkei.

Bild: Wilder Streik nahe İzmir. Von: www.yabankedileri.org

Was tun?

In ihrer Erklärung schreiben unsere Genossinnen und Genossen:

„Wir müssen erkennen, dass es Grenzen für das gibt, was diese Proteste aktuell sind und erreichen können. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass diese Protestbewegung ein Instrument der Auseinandersetzung zwischen den herrschenden Kräften bleibt oder einfach verpufft, denn die Proteste sind in ihrem Charakter eine Reaktionsbewegung, die kein gemeinsames Klassenbewusstsein aufweist und deren politische Inhalte und Forderungen vage/unklar sind. Die Bewegung hat jedoch auch das Potenzial, zu wachsen, sich zu radikalisieren und reale, dauerhafte Erfolge zu erzielen, wenn es geschafft wird, sie mit den schon länger bestehenden Kämpfen zu verbinden. So zeigen seit Anfang 2025 wilde Streiks und der Widerstand der Arbeiterinnen in zahlreichen Städten, der Widerstand von Frauen und LGBTI+-Personen trotz aller Arten von Unterdrückung und Gewalt, die Kämpfe gegen Umweltzerstörung und Massaker an Straßentieren, dass der Geist des Widerstands in dieser Region trotz allem lebendig geblieben ist.[…] Es ist möglich, die Welle des Kampfes mit Klassenforderungen und Diskursen zu verstärken, und genau das müssen wir tun. Wir müssen uns an diesem Kampf beteiligen, nicht als eine Säule im Kampf um die Macht, sondern auf organisierte Art und Weise, mit der Perspektive, die aktuellen Probleme und Forderungen der Arbeiter*innenklasse, der Frauen und all derer, die unterdrückt und diskriminiert werden, zu artikulieren und sie zu Forderungen der Bewegung zu machen. Andererseits müssen wir versuchen, verschiedene Teile der Arbeiter:innenklasse, die bereits mit Streiks und Widerstand kämpfen, in den Kampf einzubeziehen.“ 

In diesem Teil der Analyse wird deutlich, wie bedeutend der Aufbau eines Klassenbewusstseins ist und welche Rolle eine anarchistische Intervention für diese laufende Protestbewegung spielen könnte.

Die Ziele sind jedoch enorm und die anarchistische Bewegung der Türkei ist nur ein kleiner politischer Faktor – wie an so vielen Orten in der Welt. Aus diesem Grund ist es für uns als anarchistische Internationalist*nnen von höchster Wichtigkeit, das volle Gewicht unserer Solidarität hinter unsere GenossInnen in der Türkei zu werfen und ihren Kampf zur Stärkung des Klassenbewusstseins insgesamt und insbesondere die direkte Aktion der laufenden wilden Streiks zu unterstützen. Unsere GenossInnen vor Ort arbeiten an einem Projekt zur Kartierung und Klassifizierung der laufenden Streiks – einerseits um der Bewegung ein klassenkämpferisches Bewusstsein zu geben, aber auch um eine Art „Werkzeugkasten“ für die Organisation wilder Streiks bereitzustellen. Neben der Schaffung eines Bewusstseins dafür unter Freund*innen und Genoss*innen gibt es etwas sehr Praktisches, das wir hier in Westeuropa und anderswo tun können, um unsere anarchistischen Genoss*innen in der Türkei materiell in ihrem Kampf zu unterstützen.

Um in diesen wirtschaftlich so schwierigen Zeiten in der Türkei das oben erwähnte Strike-Map-Projekt zu finanzieren, haben wir einen Fundraiser eingerichtet. Deshalb möchten wir dich, liebe*r Leser*in, bitten, zu spenden und den Fundraiser mit Freund*innen und Genoss*innen zu teilen:
https://www.goodcrowd.org/building-consciousness-for-wildcat-strikes

Auch kleine Beiträge helfen und unterstützen den Kampf unserer Genoss*innen in der Türkei!

Was werden die nächsten Schritte sein und wohin wird sich die Türkei politisch entwickeln?

Wie wir in diesem Artikel zu zeigen versucht haben, lassen sich diese Fragen nicht einfach beantworten, und oft werden die verschlungenen Netze der Machtdynamiken erst im Nachhinein durchschaubar. Daher werden wir keine Vorhersagen über den Verlauf der aktuellen Proteste machen, sondern unsere Energie darauf verwenden, unseren Genoss*innen in der Türkei beizustehen, um unseren gemeinsamen Teil zum revolutionären Kampf beizutragen. Es gibt viel zu lernen, sowohl aus der Geschichte des Widerstands in Anatolien und Mesopotamien als auch aus dem aktuellen Kampf unserer Genoss*innen. Auch wenn unsere Kampagne zur finanziellen Unterstützung in der Tat eine wichtige Initiative ist, sollten wir uns davor hüten, uns auf diese Ebene der internationalistischen revolutionären Arbeit zu beschränken. Bei westeuropäischen „Solipartys“ ist das Sammeln von Geldern oft sowohl der Anfang und der Endpunkt des Engagements in Kämpfen, die weit weg zu sein scheinen. Für sich allein genommen ähnelt dieses Vorgehen leider eher der Charity-Arbeit als einem revolutionären Anspruch. Um jedoch eine Bedrohung für die kapitalistische Ordnung dieses Planeten zu werden, eine Ordnung, die international organisiert ist, müssen wir, der Widerstand gegen sie, dasselbe tun. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen und voneinander lernen. Das heißt: wir müssen unseren Genoss*innen zuhören, voneinander lernen und uns gemeinsam zu etwas entwickeln, das größer ist als wir selbst. Deshalb wollen wir das Schlusswort dieses Textes unseren Genossinnen und Genossen in der Türkei überlassen:

„Wir müssen diesen Kampf von der Straße zu unseren Arbeitsplätzen und von unseren Arbeitsplätzen auf die Straße bringen. Wir dürfen das Schicksal des Kampfes nicht den Worten von Politikern in Anzügen überlassen. Dazu müssen wir selbstverwaltete Entscheidungsmechanismen in unseren Betrieben, Schulen und Nachbarschaften schaffen, in denen wir unsere wirtschaftlichen und politischen Probleme diskutieren und unsere konkreten Forderungen festlegen können. Die Foren, die nach dem Gezi-Widerstand entstanden sind, waren wichtige Erfahrungen, die wir in dieser Hinsicht gemacht haben, und wir müssen diese Erfahrungen weiterentwickeln und wiederbeleben. Nur so kann der Kampf von Dauer sein und zu Erfolgen führen. Wir werden gewinnen, indem wir Widerstand leisten! In der Einheit liegt unsere Stärke!“

Massenprotest in İstanbul. Von: Ümit Bektaş

Bild: Massenprotest in İstanbul. Von: Ümit Bektaş

  1. Statement: „To Struggle Against the Order of Exploitation, Tyranny and Plunder!“ by Anarcho Queers, Anarchists from Ankara, Bilgi Gökkuşağı, Bizim Elimizde Campaign Group, Eşitlik Topluluğu, Heimatlos Kültü, Anarchists from Istanbul, Izmir Anarchy, Kuir Uşak, Autonomous Workers’ Associations, OzU LGBTIQ+, VeganEsk, Otonom İşçi Birlikleri. (https://www.iscibirlikleri.org/2025/03/21/to-struggle-against-the-order-of-exploitation-tyranny-and-plunder) Übersetzung: (https://anarchismus.de/blog/aktuelles/fuer-den-kampf-gegen-das-system-der-ausbeutung-und-tyrannei). []
  2. Ekrem İmamoğlu ist Mitglied der sozialdemokratisch-kemalistisch-nationalistischen Partei CHP; Bürgermeister von İstanbul; einer der aussichtsreichsten Kandidaten gegen den regierenden autoritären Präsidenten Erdoğan). []
  3. Laïcité oder Laizität ist die strikte Trennung von Kirche/Religion und Staat, die in einigen Ländern in der Verfassung verankert ist, bzw. so praktiziert wird; oft auch Kontrolle der Religion durch den Staat. []
  4. CHP: Die Cumhuriyet Halk Partisi (Abkürzung: CHP; türkisch für „Republikanische Volkspartei“) ist die zweitgrößte Partei des Landes. Sie wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet und ist damit die älteste aktive Partei des Landes. Sie ist der Hauptträger der Staatsideologie des „Kemalismus“ und hat seit den 1970er Jahren auch eine sozialdemokratische Ausrichtung, als die Regierung von Bülent Ecevit die Position der Partei stark veränderte, um den Einfluss der immer stärker werdenden kommunistischen Bewegung zu schwächen. Die Partei ist entgegen der Rezeption in westlichen Medien von Anfang an sehr pragmatisch und wissenschaftlich orientiert und hat zahlreiche politische Wechsel und Neuorientierungen durchlaufen. Nebenbei bemerkt: Der CHP-Parteivorsitzende und Ministerpräsident Ecevit war auch der erste gewählte Politiker, der öffentlich von der Existenz eines tiefen Staates in der Türkei sprach, als er den Begriff „kontr-gerilla“ für diese Organisation verwendete. []
  5. Im Fall der Türkei ist, wenn von sozialistischer Bewegung gesprochen wird, von authoritären marxistischen Parteien in all ihren Schattierungen die Rede. Eine Anarchistische Bewegung die über die vorher schon existenten kleinen Magazine hinausging sollte sich erst als Resultat der 1980er Militärputsches entwickeln. Bei diesem Putsch waren die zentralistisch organisierten kommunistischen Organisationen in atemberaubenden Tempo und mit großer Brutalität zerstört worden. Neben den ideologischen Uneinigkeiten mit authoritären Marxisten, zog die sich formende anarchistische Bewegung der Türkei in den späten 80ern aus diesem Typ von staatlicher Repressionen die Lehre, dass eine dezentrale politische Widerstandbewegung auch aus ganz pragmatischen Gründen wichtig ist. Mehr über die anarchistische Bewegung der Türkei könnte der Inhalt eines anderen Artikels sein. []
  6. Massaker an Tieren: Seit 2024 geht der türkische Staat massiv gegen Straßentiere vor. Im kulturellen Selbstverständnis der Menschen in Anatolien & Mesopotamien haben Straßentiere einen hohen Schutzstatus, die großen Städte sind von unglaublich vielen Katzen und Hunden bevölkert, die von den Anwohner:innen durchgefüttert, gepflegt und geliebt werden. Nicht selten gibt es kleine Statuen im Andenken an besonders ikonische Straßentiere und wenn im İstanbuler Café der einzige freie Tisch von einer oder mehreren Katzen besetzt ist, dann haben Gäste meist Pech gehabt. Die Gesetzesänderungen in 2024 und die folgende Kampagne zur Tötung der Straßentiere stieß insofern auf großen Protest und Unmut im Land. []
  7. AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“); konservativ-rechte, religiös aufgestellte bürgerliche Partei mit neo-osmanischer Außenpolitik und autoritärem Charakter; Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan; aktuell in einer „Volksallianz“ mit der faschistischen MHP (der parteipolitische Arm der Bozkurtlar/Graue Wölfe). []
  8. Die demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi) ist eine pro-kurdische politische Partei. Generell dem linken parlamentarischen politischen Flügel zuzuordnen legt die Partei großen wert auf radical partizipative Demokratie, Feminismus, Minderheitenrechte, Jugendrechte und Egalitarismus. []
  9. Eine guter, ausführlicherer Blick auf die wirtschaftliche Lage und die Streikbewegungen in der Türkei findet sich in diesem ND-Artikel []
  10. Die Website von Endüstrinin Yaban Kedileri []