Zu den Spannungen an der ukrainisch-russischen Grenze

Nein zum amerikanischen, russischen, europäischen und chinesischen Imperialismus

Von Tommy Ryan, Mitglied von Perspektive Selbstverwaltung
(Click here for English and Dutch)

 

Es geht durch die Welt ein Geflüster
Arbeiter, hörst du es nicht?
Das sind die Stimmen der Kriegsminister
Arbeiter, hörst du sie nicht?
Es flüstern die Kohle- und Stahlproduzenten
Es flüstert die chemische Kriegsproduktion
Es flüstert von allen Kontinenten […]

Heimlicher Aufmarsch, Erich Weinert

 

In den letzten Monaten haben die Spannungen an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland stetig zugenommen. Schon seit Monaten warnen die Vereinigten Staaten vor der zunehmenden Konzentration russischer Truppen in der Nähe der ukrainisch-russischen Grenze. Noch im Dezember bestritten die russischen Minister, dass diese Aufstockung irgendetwas mit der Situation in der Ukraine zu tun habe, und erklärten, sie sei nur Teil einer regulären Übung.{{Russia denies looking for pretext to invade Ukraine , https://apnews.com/article/russia-officials-ukraine-invasion-f58cbbd7eca51cccf74ebd4be68484e8}} Inzwischen wissen wir, dass dies nicht stimmt. Putin stellt Forderungen an die Ukraine und die Nordatlantische Allianz (NATO). Er will eine Pufferzone zwischen Russland und den NATO-Staaten aufrechterhalten, und die Ukraine – von vielen russischen Nationalisten als Teil Russlands betrachtet – soll Teil dieses Puffers bleiben. Aus diesem Grund fordert Putin, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und dass sowohl die USA als auch Europa aufhören, ihren Einfluss{{Dabei ist zu beachten, dass Russland seinen Einfluss in der Ukraine nach dem Aufstand von 2014 verloren hat, als der prorussische Präsident Janoekovytsj gestürzt wurde.}} in den an Russland angrenzenden Ländern zu suchen.{{Russia demands US, NATO response next week on Ukraine,  https://www.aljazeera.com/news/2022/1/14/russia-demands-us-nato-response-next-week-on-ukraine}}

In der Zwischenzeit bombardieren die Medien im Westen die Öffentlichkeit mit Bildern von russischen Panzern und Infanterieübungen – mit Bildern der drohenden Gefahr aus dem Osten. Diese Informationen werden nun als Vorwand genutzt, um Waffenverkäufe und -lieferungen an die Ukraine zu legitimieren.{{US sends first shipment of military aid to Ukraine amid standoff with Russia, https://www.euronews.com/2022/01/22/us-sends-first-shipment-of-military-aid-to-ukraine-amid-standoff-with-russia}} Mit Sicherheit wird die Waffenindustrie froh sein, dass ein weiterer schwelender Konflikt am Horizont auftaucht, für den sie die Waren liefern kann – die europäischen Länder Frankreich und Deutschland gehören zu den fünf größten Waffenexporteuren der Welt.{{Was die Europäische Union betrifft, so ist die Rüstungsindustrie in Deutschland und Frankreich ein relativ großer Wirtschaftszweig. Weitere Informationen findest Du in SIRPI, International arms transfers (2021), https://www.sipri.org/research/armament-and-disarmament/arms-and-military-expenditure/international-arms-transfers und in einem sehr ausführlichen Bericht über das Verhältnis von europäischem Waffenhandel und Vertreibung, dem Bericht des Transnational Institute mit dem Titel „Smoking Guns“ (2021): https://www.tni.org/en/publication/smoking-guns (EN)(DE)(FR)(ES)}}

Gründe für die Spannungen?

Warum nehmen die Spannungen derzeit zu? Dafür gibt es eine Reihe von Faktoren. Der erste ist die allgemeine imperialistische Tendenz von Staaten. Mit dem schwindenden globalen Einfluss der Vereinigten Staaten unter der Trump-Administration (nicht wegen einer Vision von sozialer Gerechtigkeit, sondern eher wegen eines Mangels an Feinfühligkeit), sehen andere Staaten die Chance, die Bühne zu betreten und zu versuchen, ihren Einfluss zu erweitern. Am deutlichsten wurde dies im syrischen Bürgerkrieg, wo sowohl die Türkei als auch Russland versuchten, den USA in die Quere zu kommen, und letztlich ihren Einfluss in der Region ausbauten. Danach folgten eine Reihe ähnlicher Versuche, bei denen sich die Türkei mit Hilfe von Stellvertreterkräften in den Konflikt in Libyen einmischte{{Stellvertreterstreitkräfte: Truppen, die im Interesse eines Landes kämpfen, aber nicht eindeutig als Truppen dieses Landes gekennzeichnet sind. Auf diese Weise können Länder informelle Kriege führen und versuchen, das internationale Kriegsrecht zu umgehen.}} und Russland versuchte, Frankreich (einen starken Partner der Vereinigten Staaten) in seiner ehemaligen Kolonie Mali auszubooten, indem es Militärberater und Söldner entsandte, um Einfluss zu gewinnen.{{Mali: Russian military advisers arrive amid Western pullback, https://www.dw.com/en/mali-russian-military-advisers-arrive-amid-western-pullback/a-60363317}} Sehr ähnlich hatte Russland auch in der Republik Kongo operiert.{{Russia to send military specialists to Congo Republic: Kremlin, https://www.reuters.com/article/us-russia-congo-security-idUSKCN1SU1OZ}}

Im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde ein weiterer eingefrorener Konflikt aufgewärmt, um den Status quo zu verändern: der um die Nagorno-Karabach-Region. Diesmal unterstützte der türkische Staat die Kriegsanstrengungen Aserbaidschans, um seinen Nachbarn und langjährigen Gegner Armenien effektiv ins Abseits zu stellen. Wie jetzt in der Ukraine lauert auch in Aserbaidschan die Aussicht auf neue Waffenverkäufe – vor allem auf die neuen türkischen Kampfdrohnen, für die ein Markt gesucht wird.{{What’s Turkey’s role in the Nagorno-Karabakh conflict?, https://www.aljazeera.com/features/2020/10/30/whats-turkeys-role-in-the-nagorno-karabakh-conflict}}{{Ukraine buys more armed drones from turkey than disclosed and angers Russia, https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-12-03/ukraine-buys-more-armed-drones-from-turkey-than-disclosed-and-angers-russia}} Und wie in Syrien sind es auch hier nicht die Vereinigten Staaten, die ein Friedensabkommen ausgehandelt haben, sondern Russland.

Neben diesen Beispielen findet auch im Pazifik eine Verschiebung statt. China versucht, den Druck auf Taiwan und Japan zu erhöhen, während umgekehrt Frankreich Pläne ausarbeitet{{Frances defence strategy in the indo-pacific, https://thediplomat.com/2021/12/frances-defense-strategy-in-the-indo-pacific}} und Großbritannien sich mit Australien und den USA im Rahmen des neuen AUKUS-Projekts{{AUKUS: trilateraler Sicherheitspakt zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten, der am 15. September 2021 für den indo-pazifischen Raum angekündigt wurde. Im Rahmen des Paktes werden die USA und das Vereinigte Königreich Australien bei der Beschaffung von atomgetriebenen U-Booten unterstützen; https://en.wikipedia.org/wiki/AUKUS}} zusammenschließt, um Gegendruck auf China auszuüben und den Verlust des westlichen Einflusses in Südostasien zu verhindern oder zumindest zu beschränken. Insbesondere unter der neuen Biden-Administration haben die USA ihre Bemühungen um die Wiederherstellung ihres globalen Einflusses verstärkt, was natürlich zu neuen Spannungen führt, da sich nun ein neues Gleichgewicht herausbildet.

Neben dem Rückgang des US-Einflusses ist ein weiterer Grund für die Zunahme der Kriegsanstrengungen die offensichtlichen internen Probleme innerhalb einiger der zuvor genannten Kriegstreiber. Die Türkei befindet sich mitten in einer schweren wirtschaftlichen Rezession mit einer Inflation von über 36% im Dezember 2021, was auch die Unzufriedenheit mit dem Regime von Erdoğan erhöht. Und auch die regierende Partei in Russland hat ein Interesse daran, die Aufmerksamkeit auf Konflikte außerhalb ihrer Grenzen zu lenken, da die Proteste der Opposition seit Januar 2021 einen neuen Impuls bekamen.

Nicht nur militärische Auseinandersetzungen

Neben den genannten internationalen militärischen Interventionen gibt es auch eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Interventionen. Russland hat das Gasventil nach Europa geschlossen, was zu einem steilen Anstieg des Erdgaspreises geführt hat. Es wird versucht, die europäische Energieversorgung und die europäische Politik zu destabilisieren – letzteres auch mittels einem ständigen Strom von Fehlinformationen und Informationen, die den russischen Interessen dienen.{{Natürlich muss hier am Rande erwähnt werden, dass der Versuch, die öffentliche Meinung in Europa zu beeinflussen, von den Vereinigten Staaten bereits seit dem Zweiten Weltkrieg unternommen wird – durch Wirtschaftsprogramme, Nachrichten und Populärkultur.}}

Was die Türkei betrifft, so hat sie in den letzten Jahren mehrfach versucht, die ‚Flüchtlingskrise‘ (eine Folge des syrischen Bürgerkriegs) als Druckmittel zu nutzen. Die türkische Regierung erklärte, sie werde nicht länger den Grenzschutz für Europa spielen, wenn es sich weiterhin in seine inneren und äußeren Angelegenheiten einmische – zum Beispiel die Kritik an der Unterdrückung der Opposition im Land oder militärischen Interventionen in Syrien (und insbesondere in den kurdisch geführten Gebieten).

China hingegen hat im letzten Jahrzehnt vor allem versucht, seinen wirtschaftlichen Einfluss auszuweiten. Es hat massiv in Infrastrukturprojekte auf dem afrikanischen Kontinent investiert{{The Quiet China-Africa Revolution: Chinese Investment. While loans take the lion’s share of the focus, Chinese FDI in Africa has also been growing at a rapid clip, https://thediplomat.com/2021/11/the-quiet-china-africa-revolution-chinese-investment}}, und auch in Zentralasien versucht es, Fuß zu fassen. China hat es beispielsweise geschafft, sich seine wirtschaftlichen Interessen in Aserbaidschan zu sichern, über das es sein Handels- und Infrastrukturprojekt (die neue Seidenstraße) aufbauen. Die chinesische Regierung versucht, das Land im Kaukasus zu einem zentralen Knotenpunkt zu machen, der China einen zusätzlichen Wirtschaftsweg nach Europa und auch Einfluss in einer traditionell von Russland dominierten Region verschaffen würde.

Nicht nur Interventionen zwischen Staaten

Neben all den Spannungen zwischen den Staaten gibt es noch etwas anderes, das für eine revolutionäre Perspektive von großer Bedeutung ist. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gründete Russland die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) als Gegenmacht zur NATO. Diese Organisation hat nun zum ersten Mal aktiv in einen Volksaufstand gegen einen ihrer Mitgliedsstaaten eingegriffen. Der Aufstand gegen das despotische Regime von Tokajew und seinem politischen Vater Nursultan Nasarbajew in Kasachstan im Januar 2022 wurde mit brutaler Gewalt vom kasachischen Staat niedergeschlagen, der militärische Unterstützung von den OVKS-Mitgliedern erhielt, da er Gefahr lief, gestürzt zu werden.{{Mitglieder der OVKS sind Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan.}}{{Der Einsatz von Truppen in Kasachstan stieß in einigen Mitgliedsstaaten jedoch auf Widerstand, da in einigen Ländern ähnliche Aufstände zum Sturz von Regimen geführt hatten, was nun durch die OVKS verhindert werden sollte.}} Die Truppen in Kasachstan kommen jedoch hauptsächlich aus Russland, das verhindern will, dass die Region seinem Einfluss entgleitet.{{Auch hier dürfen wir nicht denken, dass dies nur eine Eigenschaft des „Ostens“ ist. Während des Aufstands in Griechenland 2011 war die Rede davon, die Europäische Gendarmerietruppe (EUROGENDFOR) einzusetzen, um die Anti-Austeritätsbewegung niederzuschlagen. Es ist nie klar geworden, ob dies wirklich der Fall war, aber diese Truppe hat außerhalb Europas gehandelt, um „die Ordnung wiederherzustellen“, wie in Afghanistan und Haiti.}} Ähnliches drohte auch für den Aufstand in Belarus in den Jahren 2020 und 2021, wo der russische Staat das Regime von Lukaschenko finanziell stark unterstützt.{{How Russian money keeps Belarus afloat, https://www.dw.com/en/how-russian-money-keeps-belarus-afloat/a-58680063}} um es aufrechtzuerhalten, aber auch mit der Entsendung von Truppen drohte, wenn es nötig wäre.{{Protestors pack Belarus capital, Russia offers Lukashenko military help, https://www.france24.com/en/20200817-protestors-pack-belarus-capital-russia-offers-lukashenko-military-help}}

Russland will mit diesen Interventionen zwei Ziele erreichen. Erstens will es den Verlust stark abhängiger Marionettenregime verhindern, und zweitens versucht es zu verhindern, dass potenziell erfolgreiche Aufstände die Menschen in Russland zu Ähnlichem inspirieren.

Unser Anliegen

Die Frage ist: Was bringen diese Spannungen den einfachen Leuten? In der Tat ist es sehr wenig. Letztlich dienen diese Konflikte den Interessen der herrschenden und wirtschaftlichen Klasse. Sie bringen die Menschen auf beiden Seiten der Grenze gegeneinander auf, obwohl sie nichts davon haben, außer dem Risiko, ihre Leute als Kanonenfutter oder seine Häuser, als Schlachtfeldern zu verlieren. Zudem führt es dazu, dass wir unsere Energie in Kriege zu stecken, die nicht in unserem Interesse sind, anstatt für unsere eigenen Interessen und die Aussicht auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung zu kämpfen. Wie CrimethInc. schrieb: „Unsere Hoffnung ist, dass revolutionäre Bewegungen auf beiden Seiten jeder Grenze ausbrechen werden. Die Eskalation der staatlichen Gewalt ist darauf ausgelegt, […] die Revolution durch den Krieg zu ersetzen.“{{Against all wars, against all governments, against all oppression, https://crimethinc.com/posters/against-all-wars}}

Es liegt in unserer Verantwortung, diese Kriege zu verhindern und die Revolutionen auf beiden Seiten aller Grenzen voranzutreiben, damit wir auf eine befreite Welt hinarbeiten können, in der wir den Kapitalismus und die Unterdrückung abschaffen und selbstverwaltete Kommunen errichten können, die sich eines Tages zu einer Kommune der Kommunen zusammenschließen könnten. Es liegt an uns, im Auge zu behalten, was unsere und was die Interessen der Mächtigen sind, und wie wir das herrschende Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten verschieben. Um das zu erreichen dürfen wir uns nicht von der bloßen Propaganda einer der imperialistischen Mächte blenden lassen und müssen unsere Energien in soziale Bewegungen stecken und für revolutionäre Veränderungen kämpfen.

Während viele Liberale geblendet für den westlichen Imperialismus sind und die NATO unverhohlen ignorieren oder sogar unterstützen, besteht ein großer Fehler einiger Fraktionen der Linken darin, dass sie den Imperialismus nur als Merkmal der Vereinigten Staaten betrachten. Die USA haben eine unbestreitbare Bilanz ihrer imperialistischen Bemühungen vorzuweisen. Diese Bilanz ist so gut dokumentiert, dass ich ihr in diesem Text nicht einmal Aufmerksamkeit schenke. Sie ist eine unbestreitbare Tatsache. Wie oben dargelegt, sind imperialistische Bestrebungen jedoch nicht auf die USA beschränkt. Obwohl die Angst vor dem Osten ständig von den Westmächten geschürt wird, ist es im Osten genau umgekehrt. Dennoch scheinen einige der bereits erwähnten linken Gruppierungen hier ein Auge zudrücken zu wollen. Erstens vernachlässigen sie die Tatsache, dass Russland, China und die Türkei kapitalistische Mächte sind, die nach Einfluss streben – Einfluss, der weder im Interesse der in diesen Regionen lebenden Arbeiterklasse noch im Interesse der von ihren Kriegen bedrohten Menschen ist. Es ist an der Zeit, dass diese Apologeten der Realität ins Auge sehen und akzeptieren, dass es in Russland oder China keinen Kommunismus{{Kommunismus: eine Gesellschaft, die auf den Ideen des gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln, der Selbstverwaltung und der Abwesenheit von sozialen Klassen, Geld und Staat beruht.}} gibt. Zweitens vernachlässigen sie indirekt die Handlungsfähigkeit der Menschen in diesen spezifischen Regionen und ihr Interesse, sich von der Tyrannei zu befreien, unter der sie leben, sowie ihre Möglichkeit, dabei etwas ganz Neues zu schaffen. In diesen künstlich fabrizierten Konflikten ist es nicht im Interesse von uns einfachen Menschen, sich für die Seite eines Nationalstaates zu entscheiden.

Angesichts der weltweit wachsenden sozialen Unruhen besteht die Herausforderung darin, uns nicht von den nationalistischen Kriegen blenden zu lassen, die uns potenziell spalten. Sie wollen uns glauben machen, dass wir unterschiedliche Interessen haben als die Menschen auf der anderen Seite der Grenze, aber in Wirklichkeit suchen wir alle nach einem sicheren Ort zum Leben und der Sicherung unserer Bedürfnisse. Während wir jede Form von Imperialismus ablehnen, müssen wir auch die rassistischen Stereotypen im Auge behalten, die den westlichen Imperialismus jahrzehntelang ermöglicht haben. Deshalb richtet sich dieser Aufruf an alle Menschen, die im Westen und Osten, die im Norden und Süden. Wir werden uns nicht vom kriegslüsternen Nationalismus der Staatsführer:innen täuschen lassen, sondern auf eine Welt ohne sie hinarbeiten!

Für eine Geschwisterschaft der Völker und eine Welt ohne Grenzen und Militarismus!