Der Einleitung des Programms ist hier als PDF-Datei herunterzuladen.
Wir schreiben dieses Programm, weil sich die Probleme auf unserem Planeten häufen und wir dabei nicht weiter tatenlos zuschauen wollen. Wir hören immer wieder, dass die Herrschenden dafür verantwortlich sind, sich um diese Probleme zu kümmern. Wir sehen aber, wie sie nicht nur daran scheitern, sondern die Situation tagtäglich verschlimmern. Dieses Programm ist ein Versuch, verschiedene Ideen und konkrete Vorschläge zusammenzubringen und neue zu entwickeln: für eine zukünftige Gesellschaft, für den Weg dorthin und für das Hier und Jetzt.
Für alle, die die Schnauze voll haben. Für die, die jeden Tag befürchten müssen, aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens, ihres Passes oder ihres Geschlechtes alles zu verlieren. Für die, die seit Jahrzehnten gezwungen sind, sich kaputt zu arbeiten oder vom Jobcenter demütigen zu lassen. Für jene, die mit Erschrecken und Wut auf die Ereignisse weltweit und hier schauen: Die endlose Liste rassistischer Anschläge, der profitorientierte Umgang mit der Pandemie, die Unfähigkeit der Regierungen aus den Klimakatastrophen Konsequenzen zu ziehen. Für jene Menschen, die diese Wut nicht runterschlucken und die die Hoffnung nicht aufgeben. Denen, die zunehmenden Widerstandsbewegungen weltweit Kraft geben. Für die, die das wunderschöne Potential für Veränderung in der Gesellschaft sehen und die sich deswegen zusammenschließen und handeln. Aber auch für die, die ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit plagt: Kann das wirklich schon alles gewesen sein, was das Leben zu bieten hat?
Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um einen kleinen Teil unseres geplanten Programms. Das vollständige Programm ist unterteilt in den hier vorliegenden Einleitungstext sowie verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche. Es muss nicht von vorne bis hinten vollständig gelesen werden, die einzelnen Themen können für sich stehen. Wir werden folgende Themen veröffentlichen: Selbstverwaltung, Arbeit, Gesundheit, Gerechtigkeit, Bildung, Wohnen, Antirassismus & Dekolonialisierung, Feminismus, Infrastruktur, Selbstverteidigung und Ökologie.
Die einzelnen Programmteile bestehen aus:
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- einem Einleitungstext, der den heutigen Zustand des jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereichs kurz beschreibt;
- dem Abschnitt „Wo wollen wir langfristig hin?“, in dem wir umreißen, wie der jeweilige Bereich in einer herrschaftsfreien Gesellschaft aussehen kann;
- einem Teil zur Übergangsphase, der den Weg dahin und dabei entstehende Widersprüche aufzeigt;
- dem Abschnitt „Was können wir kurzfristig tun?“, in dem wir für das Hier und Jetzt Ansätze beschreiben, um Gegenmacht aufzubauen und Reformen fordern
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Was ist los? – Kurze Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Zustände
Was seht ihr, wenn ihr morgens aufsteht und aus dem Fenster schaut? Wie fühlt ihr euch? Wenn wir aufmerksam durch die Straßen gehen oder in den Spiegel schauen, wird schnell klar, dass der Alltag der meisten Menschen aus kleinen und großen Kämpfen besteht: Der gemeinsame Beschluss mit dem Nachbarn, sich die nächste Mieterhöhung nicht gefallen zu lassen. Die Passantin, die bei der rassistischen Polizeikontrolle oder dem trans*feindlichen Kommentar nicht schweigend wegschaut. Der vereinte Kampf um bessere Arbeitsbedingungen beim Start-Up-Lieferdienst. Diese Kämpfe sind keine Einzelfälle oder gar die Folgen individuellen Scheiterns. Sie hängen direkt miteinander zusammen und sind Folgen aber auch Grundlage der Art von Gesellschaft, in der wir heute leben. Haben die über den Arbeiter*innen einstürzende Textilfabrik in Bangladesh1, die miserablen Arbeitsbedingungen im deutschen Schlachthof2 und die Zerstörung der brasilianischen Wälder3 etwas mit unserem Alltag zu tun?
Die zunehmende Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse wird immer deutlicher: weltweit nehmen Protestwellen und Aufstände zu. Die Auslöser können eine Steuerreform, der Anstieg der Ölpreise oder rassistische Polizeigewalt sein: die Bewegungen, die daraus entstehen, entwickeln immer öfter Forderungen nach einem grundlegenden Wandel. In Indien45 haben sich die Proteste von Landwirt*innen gegen die Agrarreform zu den größten der Landesgeschichte entwickelt. In Argentinien6 erkämpfte die feministische Streikbewegung die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. In Belarus protestierten monatelang hunderttausende Menschen, um die Diktatur zu stürzen.7)89)
Gleichzeitig erleben wir, wie rechte, faschistische und verschwörungs-ideologische Netzwerke1011 immer selbstbewusster auftreten. Sie befeuern Ängste vor sozialem Abstieg, verbreiten Falschinformationen und erschaffen aus alledem extrem vereinfachte, oft antisemitische Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Quer durch die Gesellschaft zeigt sich, dass menschenfeindliche Ideologien ungebrochen existieren. Die AfD erzielt immer größere Wahlerfolge, rassistische und antisemitische Anschläge sind an der Tagesordnung.1213 Und das, während staatliche Institutionen wegschauen oder Teil davon sind: Es ist inzwischen gut dokumentiert, wie der Staat, insbesondere Teile von Polizei, Militär und Verfassungsschutz, in den Aufbau, die Vernetzung, die Finanzierung und die Vertuschung von rechtem Terror verwickelt sind.14)15)16)17)18)19)
Angesichts globaler Krisen wie der Corona-Pandemie und dem Klimawandel zeigt sich, dass nicht nur rechte Parteien Verunsicherung und Ängste nutzen. Die aktuellen Maßnahmen, wie die Verschärfung von Grenzkontrollen und Überwachung oder der Abbau von Arbeitsrechten, kommen aus der sogenannten „Mitte“ und auch von vermeintlich linken Parteien. Unter dem Vorwand, den nationalen Wohlstand zu sichern, erleben wir die immer stärker werdende Spaltung zwischen Arm und Reich.20 Diese Krisen betreffen zwar alle, aber nicht alle Menschen gleich heftig. Wenn ich an einer Supermarktkasse arbeite, alleinerziehend bin oder wegen meines Aussehens unter Generalverdacht stehe, das Virus zu verbreiten, trifft mich die Pandemie härter als andere.2122 Gleichzeitig machen Leute wie der Vorstand von Amazon das Geschäft ihres Lebens.23
Ähnliches gilt für die Klimakrise: Je nachdem, wo auf dem Planeten ich lebe, treffen mich die Folgen stärker.24 Natürlich verändert sich auch in Mitteleuropa das Klima. Aber im Alltag der meisten Menschen, die hier leben, sind die unmittelbaren Auswirkungen wenig präsent. Anders ist es etwa im Mittleren Osten, wo bereits seit Jahren aufgrund von Dürren die Lebensmittelpreise steigen. Die Klimakrise ist längst zum wichtigen Faktor in politischen Entwicklungen geworden. Am Beispiel Syriens25 zeigt sich der Einfluss von Dürren auf die Aufstände seit 2011 (sogenannter Arabischer Frühling), woanders verlieren Menschen nach Klimakatastrophen ihren Lebensraum und sind zur Migration gezwungen.26 Offensichtlich ist die Klimakrise nicht die einzige Ursache für Vertreibung und Flucht, den Tod von Menschen im Mittelmeer oder die Kämpfe um Asyl. Diese Entwicklungen werden in den Medien als isolierte Ereignisse dargestellt, jedoch ohne die globalen Zusammenhänge oder ihre Ursprünge zu benennen.
Die Krisenhaftigkeit dieses Systems liegt nicht an der fehlerhaften Umsetzung einer an sich guten Idee. Die Funktionsweisen des Kapitalismus an sich sind das Problem. Doch was genau meinen wir damit?
Kapitalismus ist mehr als ein Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung von Menschen und Natur für den Profit einiger weniger basiert. Kapitalismus ist Teil unserer Gesetze, unseres Demokratieverständnisses, unseres Bildungssystems, unseres Verständnisses von Liebe, unseres Denkens. Es handelt sich um ein gesellschaftliches System, das uns von Geburt an prägt und das wir selber reproduzieren. Die Ursprünge dieses Systems sind vielfältig.
Die Erzählung, die wir aus der Schule kennen, ist, dass sich der Kapitalismus im Zuge der industriellen Revolution natürlich und fließend entwickelt hat. Die Organisierungs- und Wirtschaftsformen, die vorher da waren, besonders die jenseits von Europa, werden kaum thematisiert. Genauso wenig der Umstand, dass diese sich nicht in einem fließenden Prozess gewandelt haben, sondern mit unglaublicher Brutalität unterdrückt wurden. Als Folge des europäischen Kolonialismus und späteren Imperialismus seit dem 15. Jahrhundert wurden weltweit ganze Gesellschaften vernichtet und ausgebeutet. Afrikanische Menschen wurden verschleppt, versklavt und ihre Arbeitskraft in den Amerikas über Jahrhunderte ausgebeutet.27 Die Tonnen an Gold und Silber, die dem lateinamerikanischen Kontinent durch tödliche Zwangsarbeit entrissen wurden, machten die Industrialisierung in Europa und später in den USA überhaupt erst möglich.2829 Gleichzeitig wurden in Europa Bäuer*innen und Gemeinschaften enteignet, ihrer Selbstversorgungsgrundlage beraubt und so in die Lohnarbeit in Städten und Fabriken gezwungen. Frauen* wurden aus bezahlter Arbeit in unbezahlte Sorgearbeit verdrängt.3031
Dass die fortschreitende Anhäufung von natürlichen Ressourcen und Eigentum von Anfang an auf Rassismus, Patriarchat, Unterdrückung, Ausbeutung und extremer Gewalt basiert, wird heute oft vergessen. Wenn wir die Geschichte des Kapitalismus anerkennen, dann heißt das, dass der heutige Kapitalismus untrennbar mit Rassismus, patriarchalen Strukturen und anderen Unterdrückungsformen verwoben ist. Wir können sie nicht als voneinander losgelöste Probleme überwinden.
Der Nationalstaat hat sich als ein Verwaltungssystem entwickelt, in dem sich der Kapitalismus ungehindert weiterentwickeln konnte und kann. Individualismus und Nationalismus verhindern eine weltweite Solidarisierung gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Der Fokus auf wirtschaftliches Wachstum, das Versprechen individuellen Glücks, aber auch die Angst vor Armut, lassen Lohnarbeit zum Fokus unseres Lebens werden. Gesetze, Strafen und Wahlen sollen uns das Gefühl von Sicherheit, Ordnung und Mitbestimmung geben, während wir das Gefühl dafür verlieren, was Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung eigentlich bedeuten. Die Ungerechtigkeit, die uns jeden Tag begegnet, ist nicht alternativlos.
Wir brauchen eine grundlegende Veränderung und wir sind überzeugt, dass diese nur umsetzbar ist, wenn wir die Sache selber in die Hand nehmen. Doch dafür brauchen wir eine Vision, wo wir hin wollen: Eine klassenlose Gesellschaft, die nicht auf der Ausbeutung von Menschen und Natur basiert. Wir müssen uns überlegen, wie diese Gesellschaft aussehen kann, um unsere Ziele zu kennen. Aber allein die Vorstellung einer Utopie wird nicht reichen. Wir müssen uns fragen: Wie kommen wir da hin? Was müssen wir dafür tun, wie schaffen wir die (materielle) Basis dafür? Was können wir heute schon verändern, aufbauen?
Auf diese Fragen antwortete Gustav Landauer 1910: „Der Staat ist ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie sich Menschen zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält“.32 In diesem Sinne: lasst uns neu zueinander in Beziehung treten und die Verhältnisse zum Tanzen bringen!
Was tun? – Soziale Revolution, Gegenmacht, Reformen
„Keine Menschen auf der Welt, keine Menschen in der Geschichte, haben jemals ihre Freiheit erlangt, indem sie an die Empathie derjenigen appellierten, die sie unterdrückten.“
– Assata Shakur33
Wie können die grundlegenden Veränderungen, die wir in diesem Programm vorschlagen, umgesetzt werden? Einige würden vorschlagen, eine Partei zu gründen und sich ins Parlament wählen zu lassen. Es ist zwar nicht egal, ob eine eher linke oder rechte Partei an der Macht ist. Aber wie eben beschrieben, ist das tägliche Unrecht untrennbar mit Staat und Kapitalismus verknüpft. Es ist unmöglich, diese Unterdrückung innerhalb des Systems durch Wahlen und Parteien zu überwinden. Eine Partei kann noch so gute Ziele verfolgen – sobald sie in der Regierung ist, muss sie sich innerhalb der Regeln des Systems bewegen, um dort zu bleiben. Wenn wir daran wirklich etwas ändern wollen, müssen wir das auf einer ganz neuen Grundlage tun.
Soziale Revolution
Wenn wir von Revolution sprechen, meinen wir eine grundlegende und nachhaltige Veränderung. Stellen wir uns die Gesellschaft als ein lebendes Wesen vor: Sie befindet sich in einem fortwährenden Wandel, den wir als Evolution bezeichnen können, da er langsam vor sich geht. Daneben gibt es Revolutionen: abrupte Veränderungen, die in relativ kurzer Zeit passieren. Eine schnelle Veränderung kann in allen möglichen Bereichen geschehen. So wird beispielsweise von der industriellen oder digitalen Revolution gesprochen, wenn technische Revolutionen gemeint sind. Oder von einer politischen Revolution, wenn die Herrschaftsform einer Region geändert wird und damit grundlegende politische Wandel einhergehen.
Um aber Herrschaft zu überwinden, braucht es mehr als einen Wechsel der politischen Verwaltung. Um wirklich etwas zu verändern, müssen wir das Fundament unserer Gesellschaft mit neuen Augen betrachten und herrschaftsfrei gestalten. Unser Ziel ist also eine soziale Revolution. Neben Bereichen wie der Bildung, der Kultur, der Wirtschaft, Arbeit oder Verwaltung wollen wir auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen anders gestalten.
Unsere Beziehungen zueinander sind heute oft von Machtunterschieden geprägt: Chef*innen können entscheiden, was ihre Angestellten tun, Lehrkräfte bestimmen, was die Schüler*innen lernen oder auf der Arbeit ist „der Kunde König“. Uns wird eingeredet, das sei die natürliche Ordnung: einige seien dazu veranlagt zu folgen, andere dazu, zu führen. Natürlich ist Herrschaft viel komplexer als das. Wenn wir eine Welt anstreben, in der alle gleichberechtigt miteinander leben können, muss das Ziel der sozialen Revolution sein, Systeme zu erschaffen, die die positiven Aspekte der Menschen zum Vorschein bringen. Die nicht mehr darauf ausgelegt sind, dass wir unseren Wert über die Abwertung oder Ausbeutung anderer Menschen definieren.
Eine solche Gesellschaft kann nur ermöglicht werden, wenn die materielle Grundlage dafür geschaffen wird. Damit eine Gesellschaft funktionieren kann, muss sie sich auch ernähren können, braucht Wohnraum, Krankenhäuser, eine Infrastruktur usw. Heute sind diese Mittel überwiegend Privat- oder Staatseigentum. Das ist kein Zufall. Dass eine sehr kleine Gruppe von Menschen über diese Mittel verfügt, und dass Besitz so ungleich verteilt ist, ist eine wichtige Stütze von Herrschaft. In der zukünftigen Gesellschaft sollen diejenigen über diese Mittel verfügen, die sie nutzen oder damit arbeiten. Soziale Revolution heißt auch, an den materiellen Grundfesten zu rütteln und sie zu Fall bringen, beispielsweise durch umfassende Enteignungen und Überführung in gemeinschaftlichen Besitz.
Revolution bedeutet zwar Veränderung in kurzer Zeit, trotzdem glauben wir nicht an den einen Moment, in dem sie stattfindet. Soziale Revolution stellt vielmehr einen Prozess dar, der nicht frei von Widersprüchen sein wird: Es werden sich immer wieder Menschen organisieren, auf andere Bewegungen treffen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden und sich zusammenschließen. Soziale Revolution ist ein Prozess des Lernens, des Austauschs, des Aufbauens, der Rückschläge und Erfolge.
Wie die Vergangenheit und die Gegenwart zeigen, lassen die Herrschenden es nicht einfach zu, dass wir eigene Strukturen aufbauen und uns als Gesellschaft verändern.34 Es liegt in der Natur von Macht, dass jene, die sie besitzen, ihre Position behalten wollen. Daher gehen wir davon aus, dass wir die Veränderungen, die wir gemeinsam aufbauen, auch verteidigen werden müssen.
Gegenmacht
Die Schlussfolgerung daraus, dass Soziale Revolution nicht der eine Moment ist, auf den wir warten, ist für uns, dass wir schon heute anfangen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und unser Zusammenleben unabhängig von staatlichen Strukturen zu organisieren. Dafür müssen wir Gegenmacht aufbauen. Wenn soziale Revolution bedeutet, alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu transformieren, sollte in allen diesen Bereichen Gegenmacht aufgebaut werden. Es kann bedeuten, dass wir eigene Bildungsangebote schaffen und Modelle entwickeln, die uns mehr ökonomische Unabhängigkeit geben. Oder, dass wir lernen, Konflikte untereinander zu klären und einen Umgang mit zwischenmenschlicher Gewalt zu finden.35 Genauso kann es auch bedeuten, dass wir in der Lage sind, uns gemeinsam gegen staatliche Angriffe zu wehren, seien es Entlassungen, Abschiebungen oder Zwangsräumungen. Und es bedeutet auch, dass wir die Formen der Herrschaft, die wir von Klein auf gelernt haben, überwinden, um unser Verhalten zueinander und unsere Beziehungen gleichberechtigt zu gestalten.
Insgesamt heißt es also, Strukturen aufzubauen, die alle unsere Bedürfnisse unabhängig von Staat und Kapitalismus befriedigen, und diese Strukturen miteinander zu vernetzen.
Reformen
Auch wenn Gegenmachtstrukturen zu einer konkreten Verbesserung unseres Alltags führen können, befinden wir uns in einer Situation, in der es nicht immer möglich ist, sich der staatlichen Logik komplett zu entziehen. Daher halten wir es für notwendig, Vorschläge für Reformen zu machen, die unsere unmittelbare Situation verbessern. Dabei ist klar, dass reiner Reformismus, also die Vorstellung, dass das System durch Reformen von innen verändert werden kann, kein Weg zum Aufbau einer anderen Gesellschaft ist. Mit Reformen meinen wir Maßnahmen, die von Staaten umgesetzt werden. Dabei sehen wir einen großen Unterschied zwischen Reformen, die uns „von oben verabreicht“ werden und unsere Situation verschlimmern können (wie z.B. Arbeitsrechtsreformen), und solchen, die von unten, also aus der Gesellschaft heraus, erkämpft werden (wie z.B. der 8-Stunden-Tag und das Frauen*wahlrecht). Aktuell würde z.B. ein bundesweiter Mietendeckel, bedingungsloses Bleiberecht für alle oder die Legalisierung von Abtreibungen unsere Leben leichter machen. Dabei sollten wir uns der Gefahren bewusst sein: Wenn der Staat Forderungen von Protestbewegungen entgegenkommt, dann mit dem Ziel, die Kontrolle zu behalten, indem die Proteste befriedet und gespalten werden. Diese Reformen kann er jederzeit zurücknehmen oder einschränken.3637 Außerdem können wir uns so sehr in staatlichen Sachzwängen verlieren, um „realistische“ Forderungen zu stellen, dass wir das Ziel aus den Augen verlieren. Wir sehen Reformkämpfe als Lernfeld für politische Organisierung, die zu unmittelbaren Verbesserungen führen können. Dabei muss klar sein, dass wir bei diesen Reformen niemals stehen bleiben dürfen.
Aber wie? – Anarchistische Grundwerte
Unsere Vorschläge für gesellschaftliche Veränderung können niemals vollständig und widerspruchsfrei sein. Daher kommt es auf die dahinterstehenden Grundwerte an. Diese bieten eine Orientierung in all den offenen Fragen und Widersprüchen, die uns begegnen werden. Genau wie das heutige kapitalistische System auf Grundwerten basiert, kann sich auch die zukünftige Gesellschaft nicht nur anhand geteilter materieller Interessen, sondern auch anhand geteilter Werte organisieren. Wie oben beschrieben, ist ein Grundcharakter von anarchistischem Denken und Handeln die Überwindung von Herrschaft. Daraus ergeben sich verschiedene Grundwerte. Schon jetzt sollten diese nicht nur unsere Theorie, sondern auch unsere Strategie und Taktik sowie unsere alltäglichen Beziehungen prägen. Die Mittel, also die Art und Weise, wie wir uns heute organisieren und miteinander umgehen, werden das Resultat bestimmen: Selbstorganisation von unten statt Herrschaft von oben. Gegenseitige Hilfe und Solidarität statt Ausbeutung und Konkurrenz. Freie Assoziation und Gemeinschaftlichkeit statt Repräsentation und Individualismus. Kollektive Verantwortungsübernahme und direkte Aktion statt Vereinzelung und Handlungsunfähigkeit.
Was diese Konzepte bedeuten und wie sie angewendet werden können, erklären wir in den folgenden Kapiteln, hauptsächlich bei „Selbstverwaltung“.
Eine konsequente Herrschaftskritik schließt andere Grundhaltungen mit ein. Dazu gehört die Erkenntnis, dass ein großer Wert darin liegt, andere Perspektiven und neue Ideen anzuerkennen und wertzuschätzen oder die Bereitschaft, daraus zu lernen und das eigene Verhalten zu verändern.
Freiheit, die auf der Unterdrückung anderer basiert, kann niemals echte Freiheit sein. Daher sind wir nicht frei, solange nicht alle frei sind.38 Und wir werden das kapitalistische System nicht überwinden, solange wir die Unterdrückungen, auf die es sich stützt nicht überwinden. Ob Antirassismus, Feminismus oder Klassenkampf, ob Klimagerechtigkeit oder Internationalismus – diese Kämpfe können nur zusammen gedacht und gemeinsam geführt werden.
Von wem? – Zu diesem Programm und den Schreibenden
Wir sind Perspektive Selbstverwaltung (PS), eine anarchistische Organisation im Aufbau, aus Berlin.
Die vorliegenden Texte und Vorschläge basieren auf unseren Ideen, ausführlicher Recherche, unseren Erfahrungen und denen der Menschen, mit denen wir in Dialog getreten sind. Sie basieren ebenso auf dem Wissen aus jahrzehnte- und jahrhundertelangen Widerstandskämpfen und revolutionären Bewegungen. Sie bilden den Versuch ab, die Bedingungen unseres Lebens und unserer Umwelt zu verstehen, um diese zu verändern. Um dies sichtbar zu machen und euch die Möglichkeiten zum Weiterlesen und zur Kontaktaufnahme zu geben, findet ihr im Anhang des Programms eine Link-Liste zu Gruppen, Bewegungen und Personen, auf die wir uns beziehen.
Neben den konkreten Vorschlägen stellen wir innerhalb der Programmpunkte Fragen, die wir bewusst unbeantwortet lassen. Einerseits, weil unser Wissen und unsere Perspektiven begrenzt sind. Andererseits wollen wir diese offenen Fragen gemeinsam mit euch diskutieren und verschiedene mögliche Antworten finden. Wir möchten mit diesem Programm zum einen Anstöße zum Nachdenken, Diskutieren und Handeln geben. Zum anderen wollen wir eine Einladung an interessierte Menschen und Gruppen aussprechen: Ihr seid die Expert*innen eurer Alltagskämpfe und wir freuen uns über eure Rückmeldungen und Ergänzungen, aber auch über eure Kritik und euren Widerspruch. Wir wollen das Programm mit euch und euren Anregungen weiterentwickeln, aber freuen uns auch wenn ihr selbständig was damit macht.
Die grundlegenden Veränderungen, die wir vorschlagen, können wir nur gemeinsam, als Gesellschaft, umsetzen. Wir sehen uns als aktiven Teil davon. Wir wollen gemeinsam Prozesse des Aufbaus in Gang setzen und euch hiermit dazu ermutigen, euch zusammenzuschließen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen!
- Medico International, Medico Factsheet – Mode und Textilbranche , Medico International, 2018 (Faktensammlung). [↩]
- Jule Reimer, Warum die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben so prekär sind, Deutschlandfunk, 2020 (Artikel). [↩]
- Norbert Suchanek, Brasiliens bedrohte Galeriewälder – Corona bremste zwar die Wirtschaft, nicht aber die Brände und Rodungen, Neues Deutschland, 2021 (Artikel). [↩]
- Dominik Müller, Indien und die Bauernproteste – Beginnt der Niedergang von Modis BJP?, Qantara.de, 2021 (Artikel). [↩]
- Mahima A. Jain, Die ökologischen Hintergründe der Agrarkrise in Indien, Deutsche Welle, 2021 (Artikel). [↩]
- Caroline Kim, Durch den Streik die Welt verstehen – Verónica Gago über die neue Welle antipatriarchaler Kämpfe und ihr Buch »Für eine feministische Internationale«, Analyse & Kritik, 2021 (Artikel). [↩]
- Ara Holmes & Kim García, „Schritte in eine ungewisse Zukunft (Teil 1) – Hintergrund und Analyse zum Beginn der Proteste“, in: Zwischen Neoliberalismus und Revolution – Textsammlung zu den Protesten in Belarus, S. 13-17, 2020 (Broschüre [↩]
- Friedrich Burschel (Hrsg.), Durchmarsch von Rechts. Völkischer Ausbruch: Rassismus, Rechtspopulismus und Rechter Terror, Rosa Luxemburg Stiftung, 2017 (Buch). [↩]
- #rC3 – Kein Filter Für Rechts, Media.CCC.de, 2021 (Video [↩]
- Initiative 19. Februar Hanau, https://19feb-hanau.org (Internetseite). [↩]
- Konrad Litschko, Seehofers „geringe“ Fallzahl, „380 rechtsextreme Vorfälle in den Sicherheitsbehörden zählt ein Lagebild, 1.064 bei der Bundeswehr. Ein strukturelles Problem? Nein, sagt Seehofer“, taz, 2020 (Artikel). [↩]
- Kommunistischer Aufbau, Wieviel Staat steckt in rechten Terror-Strukturen und wie können wir uns schützen?, 2019 (Broschüre). [↩]
- Ulrich Sander, AfD und andere rechte Netzwerke in Bundeswehr und Polizei, 2019 (Referat). [↩]
- Amadeo Antonio Stiftung, Staatsversagen. Wie Engagierte gegen Rechtsextremismus im Stich gelassen werden. Ein Report aus Westdeutschland, 2013 (Broschüre [↩]
- Christina Schmidt & Sebastian Erb, Rechte Netzwerke & die „Affäre Caffier“, Jung & Naiv, Nr. 489, 2020 (Video [↩]
- Das sehen wir besonders deutlich am Beispiel des NSU:
a. Amadeo Antonio Stiftung, 438 Verhandlungstage sind nicht das Ende der Aufklärung. Zum Urteil im ersten NSU-Prozess, 2018 (Broschüre [↩] - Andere Zustände ermöglichen, Prozesse der Aufarbeitung. Ein erstes Fazit zum Ende des NSU-Verfahrens, Seitenhieb Verlag, 2017 (Broschüre [↩]
- NSU-Watch, Analyse und Recherche (Internetseite [↩]
- Saal 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess, ARD, 2021 (Hörspiel [↩]
- WSI Verteilungsmonitor – Institut der Hans-Böckler-Stiftung, Aktuelle Grafiken, Daten und weiterführende Informationen zu Lohnentwicklung und der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen (Internetseite). [↩]
- Natürlich sind auch Menschen aus Risikogruppen besonders stark von der Pandemie betroffen. Die verschiedenen Faktoren verschränken sich miteinander, Armut ist die häufigste Krankheitursache weltweit. [↩]
- Nelli Tügel, Das Tabu, „Arme sterben im Durchschnitt früher und besonders häufig an Covid-19, doch in Deutschland interessiert das kaum“, Analyse & Kritik, 2021 (Artikel). [↩]
- Oxfam, Das Ungleichheitsvirus – Wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit verschärft und warum wir unsere Wirtschaft gerechter gestalten müssen (Deutsche Zusammenfassung), Oxfam Deutschland, 2021 (Studie). [↩]
- Hildegard Bedarff & Cord Jakobeit, Klimawandel, Migration und Vertreibung – Die unterschätzte Katastrophe, Greenpeace Deutschland, 2017 (Studie). [↩]
- Jennifer Holleis, Wie der Klimawandel zum Krieg in Syrien beitrug, Qantara.de, 2021 (Artikel). [↩]
- Christine Lottje, Migration und Flucht durch Klimawandel – Wie der Klimawandel Menschen zur Aufgabe ihrer Heimat zwingt, Oxfam Deutschland, 2016 (Broschüre). [↩]
- Bafta Sarbo, Einführung in die materialistische Rassismuskritik, Kritische Orientierungswochen HU Berlin, 2020 (Video-Vortrag). [↩]
- Karl Marx nennt diesen Prozess „Ursprüngliche Akkumulation“ (Anhäufung) von Kapital. Karl Marx, Das Kapital (Band 1) Kritik der politischen Ökonomie, Kapitel 24, Die sogenannte Ursrüngliche Akkumulation, 1867 (Buch). [↩]
- Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart, 2002, Erweiterte Auflage, Peter Hammer Verlag, S. 54-116 (Buch). [↩]
- Silvia Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, 2020, 7. Auflage, Mandelbaum Kritik & Utopie (Buch). [↩]
- Mariana Schütt, Hexenverbrennung und die ursprüngliche Akkumulation, kritisch-lesen.de, 2013 (Rezension). [↩]
- Gustav Landauer war Anarchist und in der Novemberrevolution 1918/19 sowie der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. In: Gustav Landauer, Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!, Der Sozialist, 1910 (Artikel). [↩]
- Assata Shakur ist eine Schwarze Freiheitskämpferin, ehemaliges Mitglied der Black Panthers und lebt seit 1979 im politischen Exil. Englisches Original-Zitat: „Nobody in the world, nobody in history, has ever gotten their freedom by appealing to the moral sense of the people who were oppressing them.“ in: Assatashakur.org (Internetseite). [↩]
- Ein aktuelles Beispiel sind die andauernden Angriffe auf Rojava (Nordsyrien) u.a. durch den türkischen Staat, mehr Infos auf Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., https://civaka-azad.org (Internetseite). [↩]
- Polizeiproblem, Analyse & Kritik, 2020, (Sonderheft). [↩]
- Thomas Giovanni, Building Power and Advancing: For Reforms, Not Reformism, Black Rose Federation, 2017 (Artikel). [↩]
- Eiszeit, Moloch und Heilsbringer. Zur Geschichte und Kritik des Sozialstaats, Kosmoprolet, 2016 (Artikel). [↩]
- Der Anarchist Michael Bakunin, Mitbegründer der ‚Internationalen Arbeiterassoziation‘ (Erste Internationale), sagte dazu: „Meine Freiheit ist die Freiheit aller, da ich nur dann wirklich, nicht nur in Gedanken, sondern auch tatsächlich frei bin, wenn meine Freiheit und mein Recht durch die Freiheit und das Recht aller mir gleichgestellten Menschen befestigt ist.“ in: Errico Malatesta, Anarchie, 1891 (Broschüre). [↩]